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Christiane Flüter-Hoffmann / Eva Rabung IW-Kurzbericht Nr. 50 16. Juni 2022 Digitale Barrierefreiheit: (noch) keine Vorbildfunktion der öffentlichen Verwaltung

Seit 2019 müssen Internetpräsenzen von Bundesbehörden in der EU barrierefrei sein. Der erste Monitoring-Bericht ist allerdings ernüchternd: Keine einzige der rund 1.900 geprüften Websites in Deutschland erfüllt die Kriterien.

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(noch) keine Vorbildfunktion der öffentlichen Verwaltung
Christiane Flüter-Hoffmann / Eva Rabung IW-Kurzbericht Nr. 50 16. Juni 2022

Digitale Barrierefreiheit: (noch) keine Vorbildfunktion der öffentlichen Verwaltung

Institut der deutschen Wirtschaft (IW) Institut der deutschen Wirtschaft (IW)

Seit 2019 müssen Internetpräsenzen von Bundesbehörden in der EU barrierefrei sein. Der erste Monitoring-Bericht ist allerdings ernüchternd: Keine einzige der rund 1.900 geprüften Websites in Deutschland erfüllt die Kriterien.

Welche Chance haben Menschen mit geringem oder ohne Sehvermögen Websiteninhalte wahrzunehmen? Sind Bilder, Logos und Links technisch im Hintergrund so beschrieben, dass sie gehört werden können? Werden Inhalte auch verstanden ohne Farben sehen zu können? Sind Videos auf Webseiten nur verständlich, wenn man hören kann? Können Verwaltungstermine digital ohne Hilfe einer Computermaus gebucht werden?

Angesichts der – in vielen Bereichen schon alltäglichen – Digitalisierung unserer Gesellschaft sind solche Fragen essenziell bei der Gestaltung von Websites oder mobilen Anwendungen. Denn Besucherinnen und Besucher von Websites sollten unabhängig von persönlichen oder technischen Barrieren die Inhalte lesen, verstehen und in Interaktion treten können. Manche Personen sind dabei auf assistive, technische Hilfsmittel angewiesen.

Zielgruppen

Menschen, deren Teilhabe an Kommunikation und Information ohne Barrierefreiheit nicht oder nur eingeschränkt möglich wäre, sind vor allem:

  • Menschen ohne oder mit eingeschränktem Sehvermögen
  • Menschen ohne Farbwahrnehmung
  • Menschen ohne oder mit eingeschränktem Hörvermögen 
  • Menschen ohne Sprachvermögen
  • Menschen mit eingeschränkter manueller Fähigkeit oder eingeschränkter Kraft
  • Menschen mit Fotosensibilität
  • Menschen mit Lernschwierigkeiten oder kognitiven Beeinträchtigungen (BMAS, 2021, S. 25).

Neben den Menschen mit Beeinträchtigungen sind es vor allem ältere Personen, aber auch Menschen mit Einwanderungsgeschichte oder Menschen mit funktionalem Analphabetismus, die sich den Herausforderungen von Lesbarkeit, Verständlichkeit und Bedienbarkeit der digitalen Dienstleistungen stellen müssen und an oder durch Barrieren scheitern (BMAS, 2021, S. 13). 

Inhaltselement mit der ID 10854
Inhaltselement mit der ID 10855

Gesetzliche Vorgaben

Seit dem 25. Mai 2019 sind Bundesbehörden und viele öffentliche Einrichtungen auf Landes- und kommunaler Ebene gesetzlich verpflichtet, ihre Internetpräsenzen barrierefrei zu gestalten. Die wenigen Ausnahme-Regelungen finden sich in der aktuellen Fassung der Barrierefreien-Informationstechnik-Verordnung (BITV 2.0, 2019). Die BITV 2.0 geht in Teilbereichen über die Europäische Norm hinaus. Beispielsweise müssen zentrale Inhalte in Leichter Sprache und in Gebärdensprache angeboten werden. 

Zusätzlich sind alle EU-Mitgliedsstaaten verpflichtet, alle drei Jahre anhand eines Überwachungsverfahrens stichprobenartig zu überprüfen, inwieweit die Websites und die mobilen Anwendungen öffentlicher Stellen den gesetzlichen Barrierefreiheitsanforderungen genügen. Erstmalig erschien der Monitoring-Bericht von Deutschland am 23.12.2021 (BMAS, 2021). Der nächste Bericht erscheint Ende 2024. 

Hohe Anforderungen

Das Thema Barrierefreiheit verlangt den Anbietern digitaler Informationen viel ab: Die sogenannten “Web Content Accessibility Guidelines” (WCAG) sind ein auf internationaler Ebene erarbeiteter Katalog von Anforderungen an die digitale Barrierefreiheit. Die WCAG wurden von der Internationalen Organisation für Normung (ISO) 2008 zur Norm erklärt (WCAG, 2008) und haben 78 Erfolgskriterien und Anforderungen, beispielsweise Untertitelung und Audiobeschreibungen für Videos, Textalternativen für Bilder, ausreichende Kontraste, Tastaturbedienbarkeit und Kompatibilität mit assistierenden Technologien.

Ergebnisse erster Überprüfungen

Im ersten Überwachungszeitraum vom 1. Januar 2020 bis 22. Dezember 2021 wurden in Deutschland 1.762 Webauftritte mit der Methode der vereinfachten Überwachung, 130 Webauftritte mit der Methode der eingehenden Überwachung sowie 57 mobile Anwendungen mit der Methode der eingehenden Überwachung überprüft (vgl. Grafik). Im Rahmen der „vereinfachten Überwachung“ ging es um 24 Anforderungen, darunter:

  • 20 WCAG-Anforderungen wie beispielsweise Tastaturbedienbarkeit, Kontraste, Untertitel
  • ein PDF-Dokument, das mit einem PAC-Test (PDF Accessibility Checker) geprüft wird
  • das Vorhandensein der Erklärung zur Barrierefreiheit,
  • das Vorhandensein von Inhalten in Leichter Sprache sowie
  • das Vorhandensein von Inhalten in Deutscher Gebärdensprache (BMAS, 2021, S. 78).

Insgesamt stellte sich heraus, dass keiner der geprüften 1.900 Webauftritte der öffentlichen Verwaltung in Deutschland alle vorgeschriebenen Anforderungen erfüllt, obwohl das Gesetz bereits seit 2019 gilt.

Die größten dokumentieren Probleme fanden die Prüfer bei der Verwendung von HTML-Strukturelementen. Die „Internet-Sprache“ HTML, in der alle Webseiten geschrieben sind, kann beispielsweise Überschriften und Listen von normalem Fließtext unterscheiden. Fehler in diesem Bereich bedeuten ein Problem für die sogenannte Robustheit, denn assistierende Technologien können so die Inhalte nicht richtig vorlesen. Auch wurden häufig keine Alternativtexte für Grafiken und Bedienelementen gefunden. Beides ist bei der Maschinenlesbarkeit wichtig, denn auch Suchmaschinen oder Sprachassistenten wie Siri oder Alexa setzen hier technisch auf. So bringt eine Verbesserung der Robustheit und Wahrnehmbarkeit Vorteile bei der Suchmaschinenoptimierung.
Weitere Probleme gab es bei Kontrast und Tastaturbedienbarkeit, aber auch bei den vier zusätzlichen Prüfschritten barrierefreies PDF, Erklärung zur Barrierefreiheit, Inhalten in Leichter Sprache und Deutscher Gebärdensprache (BMAS, 2021, S. 100).

Nächste Schritte

Der Monitoring-Bericht zeigt Schwachstellen in der Verwendung der Informationstechnik, aber auch in der Sensibilität der Verantwortlichen. 

Die sicherlich schnellste Verbesserung der Ergebnisse ist bei den zusätzlich getesteten Anforderungen der formalen Verfügbarkeit einer „Erklärung zur Barrierefreiheit“ und den geforderten Inhalten in Leichter Sprache und in Deutscher Gebärdensprache zu erwarten. Andere Schwachstellen – wie die Erstellung von barrierefreien PDF-Dokumenten oder technisch tiefgreifenderer Probleme – werden wohl nur langsam behoben werden können.

Ausblick für die Privatwirtschaft

Die Privatwirtschaft hat zwar noch etwas Zeit, sollte sich aber jetzt schon vorbereiten. Denn das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG), das Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie (EU) 2019/882 des Europäischen Parlaments und des Rates über die Barrierefreiheitsanforderungen für Produkte und Dienstleistungen, das bereits im Bundesgesetzblatt veröffentlicht wurde, tritt am 28. Juni 2025 in Kraft, Teilbereiche schon eher. Dann müssen viele Produkte wie Geldautomaten, Selbstbedienungsterminals, E-Book-Reader und Dienstleistungen von Banken für Verbraucher barrierefrei gestaltet sein, aber auch der Online-Handel. Das Thema wird also für alle Unternehmen, die auf ihren Webseiten oder in Apps Produkte online verkaufen, sehr wichtig werden. Das Gesetz sieht eine Marktüberwachungsbehörde vor, die – nach entsprechenden Fristen – anordnen kann, den Verkauf von Dienstleistungen oder Produkten zu untersagen.

Unternehmen, die sich bereits jetzt mit dem Thema Barrierefreiheit beschäftigen, haben nicht nur einen guten zeitlichen Puffer, um Probleme frühzeitig zu erkennen, sondern aktuell auch einen Wettbewerbsvorteil. Denn die Anzahl an Menschen mit einer Einschränkung, die Produkte und Online-Dienste nutzen, wächst durch den demografischen Wandel kontinuierlich an. Für diese Zielgruppe sind heute schon barrierefreie, gut durchdachte Produkte und Dienstleistungen attraktiv und haben finanziell gesehen ein gutes Potenzial.

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