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Berthold Busch IW-Kurzbericht Nr. 47 7. Juli 2021 Es geht nicht nur um die Wurst

Die EU und das Vereinigte Königreich streiten sich über die Auslegung des Protokolls zu Irland/Nord­irland, das zu einer imaginären Grenze in der Irischen See geführt hat. Während die EU auf eine strikte Einhaltung der Vorschriften drängt, möchte die Regierung von Boris Johnson das Protokoll am liebsten loswerden.

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Es geht nicht nur um die Wurst
Berthold Busch IW-Kurzbericht Nr. 47 7. Juli 2021

Es geht nicht nur um die Wurst

Institut der deutschen Wirtschaft (IW) Institut der deutschen Wirtschaft (IW)

Die EU und das Vereinigte Königreich streiten sich über die Auslegung des Protokolls zu Irland/Nord­irland, das zu einer imaginären Grenze in der Irischen See geführt hat. Während die EU auf eine strikte Einhaltung der Vorschriften drängt, möchte die Regierung von Boris Johnson das Protokoll am liebsten loswerden.

Bei den Verhandlungen über das Austrittsabkommen zwischen der Europäischen Union (EU) und dem Vereinigten Königreich (VK) war die Nordirlandfrage eine der größten Herausforderungen. Nordirland gehört zum VK und ist mit dem Brexit aus der EU ausgeschieden. Die Republik Irland ist als unabhängiger Staat Mitglied in der EU. Damit ist die Grenze zwischen den beiden Teilen der Insel eine EU-Außengrenze.

Auf beiden Seiten bestand Einigkeit, dass Kontrollen an der Landgrenze zwischen Nordirland und der Republik Irland vermieden werden sollen. Der Handel zwischen den beiden Teilen der irischen Insel wird dadurch nicht behindert, ebenso wenig der freie Personenverkehr. Damit soll dem Karfreitagsabkommen von 1998 Rechnung getragen werden, das entscheidend dazu beigetragen hat, den gewaltsamen Nordirlandkonflikt zu befrieden. Vor dem Brexit konnte durch die Mitgliedschaft der Iren und der Briten im Binnenmarkt der EU auf Grenzkon­trollen verzichtet werden. Es wurde befürchtet, dass die Einrichtung von Grenzkontrollen wieder zu gewaltsamen Auseinandersetzungen führen würde.

Zur Vermeidung von Kontrollen an der inneririschen Landgrenze wurde im sogenannten Nordirlandprotokoll des Austrittsvertrags eine komplizierte Regelung vereinbart, damit die EU ihren Binnenmarkt vor Einfuhren schützen kann, die nicht oder falsch verzollt sind oder nicht den EU-Standards entsprechen. Nordirland ist zwar Teil des Zollgebiets des VK, wendet aber die Regeln der EU-Zollunion an und auch die erforderlichen Kontrollregeln für Wareneinfuhren, speziell auch für Nahrungsmittel und tierische Erzeugnisse (Torrance, 2021, 40). Damit verbleibt Nordirland faktisch im Binnenmarkt der EU, obwohl es zollrechtlich zum VK gehört. Britische Händler müssen Zollerklärungen abgeben und für Nahrungsmittel und Agrarerzeugnisse sind von Großbritannien (GB) Ausfuhr-Gesundheitszeugnisse auszustellen. Diese Dokumente und die Produkte können kontrolliert werden. Da an der Landgrenze keine Kontrollen stattfinden, wurden sie in die Irische See verlegt. Allerdings wurden im Joint Committee, einer Einrichtung des Austrittsabkommens, zeitlich befristete Ausnahmeregelungen für bestimmte Produkte vereinbart, in denen die Zoll- und Kontrollregelungen noch nicht angewendet werden, die sogenannten „grace periods“.

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Dass GB für die Versorgung Nordirlands durchaus relevant ist, zeigt ein Blick in die Statistik. 2018 betrug der gesamte Wert aller Einkäufe von Waren und Dienstleistungen in Nordirland 45,9 Milliarden Euro. Mehr als die Hälfte (53,6 Prozent) stammt zwar aus Nordirland selbst. Doch auf Lieferungen aus GB entfallen fast 30 Prozent. Nur knapp 12 Prozent stammen aus der EU-27; davon entfallen 6,2 Prozentpunkte auf Einfuhren aus Irland. Importe aus der übrigen EU (ohne GB) machen 5,7 Prozent aller Einkäufe Nordirlands aus – das ist etwas mehr als die Importe aus dem Rest der Welt (5,3 Prozent). Die Einkäufe Nordirlands von Nahrungsmitteln, Getränken und Tabak aus GB, bei denen Gesundheitsvorschriften relevant sind, summierten sich im Jahr 2017 auf gut 500 Millionen GBP (NISRA, 2019, 14).

Die Anwendung des Protokolls bereitet Schwierigkeiten. Mitte März hat die Europäische Kommission rechtliche Schritte gegen das VK eingeleitet, weil – so der Vorwurf der Kommission – das Land die „vollständige Anwendung des Protokolls zu Irland/Nordirland im Hinblick auf die Beförderung von Waren und Reisen mit Heimtieren von Großbritannien nach Nordirland einseitig“ verzögern wolle (Europäische Kommission, 2021). Unter anderem ging es dabei um die Einfuhr von Lebensmitteln für Supermärkte in Nordirland, für die eine Übergangsfrist von drei Monaten bis zum 31. März 2021 vereinbart worden war (Curtis/Walker, 2021, 3).

Die EU will auf Kontrollen in der Irischen See nicht verzichten, weil sie fürchtet, dass anderenfalls Waren aus dem VK oder aus Drittländern über das VK unkontrolliert in den EU-Binnenmarkt gelangen. Damit wäre nicht nur die Einhaltung von Gesundheits- und Sicherheitsvorschriften nicht gewährleistet, es könnte überdies auch der Außenzolltarif der EU unterlaufen werden. GB wiederum möchte die vereinbarten Regelungen ändern. Der britische Premierminister Boris Johnson wird mit den Worten zitiert, die lächerlichen Brexit-Grenzkontrollen in Nordirland loszuwerden, indem er das Protokoll in den Sand setzt (Torrance, 2021, 41).

Im Juni flackerte der Streit wieder auf, da zum 30. Juni die Lieferung von britischen Würsten und anderen gekühlten Fleischprodukten nach Nordirland verboten werden sollte, weil das VK die Regeln der EU für die Lebensmittelsicherheit nicht anwendet. Die Briten hatten darum gebeten, die Frist dieser Ausnahmeregel bis zum 30. September zu verlängern (Euractiv, 2021a).

Artikel 16 des Nordirlandprotokolls enthält eine „Notbremse“, die es jeder Vertragspartei unter bestimmten Bedingungen erlaubt, einseitig geeignete Schutzmaßnahmen zu ergreifen. Die Europäische Kommission hatte kurzzeitig beabsichtigt, diese Karte zu ziehen, um die Ausfuhr von Covid-19-Impfstoff aus der EU ins VK (Nordirland) zu verhindern, dieses Unterfangen aber schnell aufgegeben, als sich ein massiver politischer Schaden abzeichnete und sowohl die britische als auch die irische Regierung protestierten (Curtis/Walker, 2021, 3; Euractiv, 2021b).

Kritiker bezeichnen die im Nordirlandprotokoll vereinbarte Regelung als Hindernis für die territoriale Integrität des VK (Torrance, 2021, 39). Nordirische Unionisten fürchten um die Anbindung Nordirlands an das Vereinigte Königreich und lehnen das Nordirland-Protokoll ab. Die frühere Premierministerin, Theresa May, hatte denn auch während ihrer Amtszeit eine solche Regelung als inakzeptabel bezeichnet. Sie strebte einen Brexit mit Regeln an, die Grenzkontrollen verzichtbar machen sollten. Doch die Hardline-Konservativen wollten die damit verbundenen Einschränkungen – wenig Handlungsspiel­raum bei Freihandelsabkommen mit Drittstaaten und weit­gehende regulatorische Angleichung an die EU – nicht hinnehmen. Das führte zum Sturz von Theresa May. Als Johnson einen härteren Brexit durchsetzte, war damit unweigerlich die imaginäre Handelsgrenze in der Irischen See verbunden.

Doch bei einer Zuspitzung des Konflikts mit Vergeltungsmaßnahmen einer Vertragspartei, beispielsweise die Einführung von Strafzöllen, würden beide Seiten Schaden nehmen. Die Eskalation zu einem Handelskrieg sollte unbedingt vermieden werden. Dazu müssen sich sowohl GB als auch die EU kompromissbereit zeigen. Die Kontrollen bei der Einfuhr nach Nordirland sind nicht verzichtbar. Doch die EU sollte sich auf die wirklich notwendigen Prüfungen beschränken und GB muss einen Beitrag leisten, indem es die unverzichtbaren Zoll- und Gesundheitsvorschriften der EU anwendet.

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