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Michael Hüther in der Rheinischen Post Interview 18. Juli 2023

„Wir müssen wieder mehr arbeiten“

Im Interview mit der Rheinischen Post fordert IW-Direktor Michael Hüther als Mittel gegen den Fachkräftemangel, dass wir alle mehr arbeiten. Zugleich verteidigt er die Strompreis-Subventionen für die Industrie. Auch zur Abschaffung des Ehegattensplittings hat er eine klare Meinung.

Unternehmen klagen über hohe Preise, manche wollen abwandern. Wie schlimm ist die Lage wirklich?

Die Lage ist unterschiedlich dramatisch, je nach Branche. Die hohen Energiekosten betreffen nicht nur alte Industrien wie Chemie, Glas und Stahl, auch die Mikrochip-Herstellung ist energieintensiv. Mit dem Ausstieg aus der Atomkraft haben wir der Wirtschaft eine günstige Energiequelle entzogen.

Der Ökonom Schularick sagt, die Chemie trage nur drei Prozent zum Sozialprodukt bei, die Politik solle auf deren Lamento nicht hören…

Das ist komplexer. Die Chemie ist Teil der energieintensiven Industrien, die insgesamt 20 Prozent zur Wertschöpfung des verarbeitenden Gewerbes beisteuert. Die Chemie ist ein zentrales Glied der Wertschöpfungskette, sie ist überdurchschnittlich forschungsaktiv und innovativ, für die Dekarbonisierung anderer Branchen unverzichtbar. Die deutsche Industrie ist stark, weil sie im Verbund mit Dienstleistungen arbeitet und so kundenspezifisch attraktiv ist. In den USA ist die Industrie dagegen schwach, weil sie das nicht geschafft hat.

Brauchen wir einen Industriestrompreis, wie ihn Habeck plant?

Wir brauchen den Industriestrompreis, wir hatten diesen übrigens implizit im EEG. Wir müssen der energieintensiven Industrie eine Brücke bauen, bis die Erneuerbaren genug Strom liefern. Sonst verlieren wir überdurchschnittlich innovative Unternehmen; energieintensiv ist nicht mit alt gleichzusetzen. Zugleich müssen wir bei wichtigen Gütern unabhängig bleiben und dürfen uns Ländern wie Russland und China nicht ausliefern.

Einmal eingeführt, bleiben Subventionen – warum sollte das hier anders sein?

Der Industriestrompreis darf keine Dauersubvention werden. Daher wird er an den Börsenpreis gebunden: Sinkt dieser wegen des steigenden Angebots an erneuerbaren Energien, fällt die Unterstützung weg. Zudem müssen die Unternehmen Strategien zur Klimaneutralität vorlegen.

Familienunternehmen klagen, dass sie keine Hilfe bekommen und für die Subvention der Großen noch mitzahlen müssen.

Wenn Familienunternehmen energieintensiv sind, bekommen auch sie den Industriestrompreis. Doch das darf nicht alles sein: Die Stromsteuer muss auf europäisches Niveau sinken und die Netzentgelte müssen reformiert werden.

Thyssenkrupp soll zwei Milliarden Euro Staatshilfe für eine Anlage zur Herstellung von grünem Stahl erhalten. Um das gesamte Werk in Duisburg zu sichern, braucht es vier. Das kann doch nicht alles der Steuerzahler finanzieren…

Der Staat kann keinem Unternehmen die Transformation abnehmen, es kann keine Vollsubventionierung geben. Wer die Anpassung nicht schafft, wird vom Markt verschwinden – so ist Marktwirtschaft. Allerdings handelt es sich um politisch erzwungenen Strukturwandel: Weil wir bis 2045 klimaneutral sein wollen, steigen wir aus fossilen Energieträgern aus. Das legitimiert die Anpassungssubventionen.

Deutschland war auf dem Weltmarkt bislang erfolgreich. Doch das hat sich nach Corona und seit dem Ukraine-Krieg gründlich geändert. Droht Deutschland der Abstieg in die zweite Liga?

Ich fürchte, dass Deutschland nach diesen Schocks wieder zum kranken Mann Europas werden kann. Das war schon einmal der Fall – vor knapp 25 Jahren. Damals hatten wir fünf Millionen Arbeitslose, die Unternehmen waren durch die Globalisierung herausgefordert, der Sozialstaat sklerotisch. Dann hat sich das Land aufgemacht, die Krise zu überwinden. Es wurde zum Vorbild für andere.

Kann es Deutschland wieder schaffen?

Grundsätzlich verfügt die deutsche Wirtschaft über eine außerordentliche Flexibilität. Aber es ist durch die hohen Energiepreise und die Abhängigkeit von China, aber auch von Russland mehr als andere Länder herausgefordert. Das ist ein Unterschied zur Situation vor 20 Jahren, ein anderer liegt in der Arbeitsmarktverfassung.

Hat Deutschland wichtige Trends wie Digitalisierung und Elektrifizierung des Verkehrs verschlafen?

Das sehe ich nur zum Teil. Bedenken Sie, dass 53 Prozent der Patente beim autonomen Fahren aus Deutschland kommen. Und richtig: Der Einsatz von Künstlicher Intelligenz im Gesundheitswesen und anderen Bereichen ist etwa in Israel viel weiter als hier. Aber das verhindert unser übertriebener Datenschutz.

Dass die deutschen Autobauer ohne Tesla noch immer den Verbrennermotor optimieren würden, hat aber mit Datenschutz nichts zu tun.

Richtig, die deutschen Autobauer haben lange geschwankt zwischen der Optimierung klassischer Antriebe und der Elektrifizierung, das hat zu strategischen Unsicherheiten geführt. Nun bietet der Hersteller BYD aus China plötzlich ein Tablet auf Rädern. Ich bin aber optimistisch, dass Deutschland den Wandel schafft. Die Stärke unserer Wirtschaft, Netzwerke aufzubauen, zeigt sich auch bei der Herstellung von E-Autos.

Ist da nicht Tesla in Brandenburg der einzige Leuchtturm?

Um den neuen Tesla-Standort entstehen Netzwerke von Zulieferern – natürlich anders als bei Autos mit Verbrennermotor. Und diese Effekte sehe ich auch an den anderen großen Automobilstandorten in Deutschland.

Die SPD will das Ehegattensplitting streichen, um die Erwerbstätigkeit von Frauen zu erhöhen. Ein Mittel gegen den Fachkräftemangel?

Die Debatte ist ein alter Hut. Wir müssen es den Paaren überlassen, mit welcher Aufteilung sie das gemeinsame Familieneinkommen erzielen wollen. Schon aus Gründen des Verfassungsrangs der Ehe als Lebens- und Wirtschaftsgemeinschaft macht das Splitting grundsätzlich Sinn. Das Ehegattensplitting hält Frauen nicht vom Arbeiten ab. Frauen nehmen dann Vollzeitjobs an, wenn die frühkindliche Betreuung besser ausgebaut ist.

Es heißt bei Ihren Fachkollegen, dass wir eine bis 1,5 Millionen Zuwanderer jährlich benötigen, um die Fachkräftelücke zu schließen. Was halten Sie davon?

Eine Million Zuwanderer sind zu viel und würden die Integrationskosten gewaltig in die Höhe treiben. Um jährlich 200.000 Arbeitskräfte netto ins Land zu holen, kommen derzeit 800.000 Zuwanderer brutto ins Land. Uns werden bereits 2023 gut 4,2 Milliarden Arbeitsstunden jährlich fehlen. Die werden wir nicht mit Zuwanderung bekommen. In allen Ländern um uns herum, in der OECD, in der nördlichen Hemisphäre bestehen die gleichen Probleme, alle leiden unter einem Mangel an Arbeitskräften.

Was wäre die Alternative?

Wir müssen wieder mehr arbeiten – so wie es die Schweiz vormacht. Dort, aber auch in Schweden, arbeitet eine Vollzeitkraft fast 300 Stunden mehr im Jahr als bei uns. Wir brauchen eine Ausweitung der individuellen Arbeitszeit im Jahr, nicht den unrealistischen Traum der Vier-Tage-Woche. Das kann über die Wochenarbeitszeit oder andere Urlaubsregelungen gehen, in Zeiten höherer Arbeitszeit- und Arbeitsortsouveränität durchaus vermittelbar. Jedenfalls müssen wir uns dieser Debatte stellen.

Was wäre die Folge, wenn wir nicht die Arbeitskräftelücke schließen?

Wir müssen das Erwerbspotenzial besser ausschöpfen, um den Übergang in eine klimaneutrale Wirtschaft mit einer dann kleineren Bevölkerung zu schaffen. Ohne die Arbeitszeitverlängerung wären in den nächsten Jahren bestenfalls noch Wachstumsraten von 0,5 bis 0,75 Prozent möglich. Und die Inflation würde über Jahre bei drei bis dreieinhalb Prozent liegen. Das wäre das Szenario einer dauerhaften Stagflation, die niemand haben will.

Zum Interview auf rp-online.de

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