Finanzminister Lindner macht sich mit seinem Haushaltsentwurf wenig Freunde. Im Interview mit dem SPIEGEL rückt IW-Direktor Michael Hüther vom harten Sparen ab und wirbt für staatliche Investitionen – und neue Schulden.
Bundeshaushalt: „Lindners Sparkurs ist verfehlt”
Herr Hüther, Bundesfinanzminister Christian Lindner will im Kampf gegen die Inflation die Staatsausgaben begrenzen und möglichst keine Schulden machen. Ist das die richtige Strategie?
Der Finanzminister hat recht, wenn es um Renten oder Sozialleistungen geht, um sogenannte konsumtive Ausgaben also, die direkt keinen produktiven Mehrwert schaffen. Er liegt falsch bei staatlichen Investitionen für Verkehrs- und Kommunikationsinfrastruktur oder den digitalen und klimagerechten Umbau des Landes. Diese Ausgaben müssen erhöht und in angemessenem Umfang über zusätzliche staatliche Kredite finanziert werden.
Uns überrascht, dass Sie als liberaler Ökonom höhere Staatsschulden fordern. Gibt es Ihnen nicht zu denken, dass internationale Organisationen wie die OECD oder der IWF vor neuen Schulden warnen?
Ehrlich gesagt wundere ich mich über die allzu traditionalistische Auffassung, wonach staatliche Schulden grundsätzlich die Inflation befördern. Es ist ja selbstverständlich, dass die Regierung nicht nur mehr Geld für Klima und Infrastruktur ausgeben soll, sondern dass sie zugleich regulatorisch die ökonomischen Fesseln lockern muss. Eine Investitionsoffensive sollte von einem Standortprogramm begleitet werden, das die überbordende Bürokratie in Deutschland abbaut, private Investitionen fördert und das Arbeitsvolumen erhöht. Wer die staatlichen Investitionen steigern will, kann nicht gleichzeitig die Viertagewoche fordern. Das passt nicht zusammen.
„Nur auf Zuwanderung zu setzen, wird nicht reichen.”
Wollen Sie den Bürgern neue Schulden aufbürden und zurück zur Vierzigstundenwoche, damit es der Industrie besser geht?
Nein. Das Arbeitsvolumen setzt sich aus vielen Elementen zusammen. Neben der Wochenarbeitszeit ist auch das Rentenalter wichtig, die Urlaubsregelungen und die Frage, ob Teilzeit- zu Vollzeitstellen werden können. Die Regierung muss der demografischen Entwicklung entgegenwirken, durch die das Arbeitsvolumen in Deutschland gefährlich abzusinken droht. Nur auf höhere Zuwanderung zu setzen, wird nicht reichen und ist deshalb falsch.
Sie halten den aktuellen Sparkurs der Bundesregierung also für verfehlt?
Soweit er die Investitionen betrifft, ist der Sparkurs verfehlt, ja. Deutschland benötigt eine strategische Antwort auf die Herausforderungen Demografie und Dekarbonisierung. Darauf mit der stereotypen Feststellung zu antworten, wonach staatliche Schulden immer schlechte Schulden sind, ist ökonomisches Denken der Neunzigerjahre.
Was hat sich nach Ihrer Meinung geändert?
Damals hatten wir Massenarbeitslosigkeit und einen verkrusteten Arbeitsmarkt. Heute leidet der Standort unter Fachkräftemangel und an einer maroden Infrastruktur. Das ist eine völlig andere Problemlage. Bis zur Pandemie wuchs Deutschland im langfristigen Mittel um etwa eineinhalb Prozent pro Jahr, jetzt liegt das sogenannte Trendwachstum nur noch bei 0,5 Prozent. Wir brauchen aber mindestens zwei Prozent, um die Industrie digitalisieren und klimagerecht umbauen zu können.
Ist Deutschland also wieder der „kranke Mann Europas”, wie schon zu Beginn dieses Jahrhunderts?
Nein, es ist eine Art Überforderung im Strukturwandel. Wir schaffen es nicht, unsere alten Industrien schnell genug umzubauen und dafür neue Geschäftsfelder zu erschließen und dafür die staatliche Infrastruktur zu modernisieren. Es sind zusätzliche staatliche Investitionen nötig, für die wir zielgenau neue Kredite aufnehmen sollten.
Die Bundesregierung will sich an die Schuldenbremse halten, die im Grundgesetz festgeschrieben ist. Wollen Sie dem Finanzminister raten, die Verfassung zu brechen?
Nein. Die Bundesregierung hat im vergangenen Jahr den Klima- und Transformationsfonds aufgestockt. Das war grundsätzlich der richtige Schritt. Darauf sollte sie aufbauen, ohne die Schuldenbremse zu verletzen.
Was schlagen Sie vor?
Der Fonds sieht derzeit Ausgaben von 177 Milliarden Euro bis 2026 vor. Für die dringendsten staatlichen Investitionsaufgaben benötigen wir 400, wenn nicht 500 Milliarden Euro. Die Bundesregierung sollte dem Fonds deshalb eine eigene Rechtspersönlichkeit verleihen, damit er auf dem Kapitalmarkt das nötige Geld aufnehmen kann. Das wäre ein Weg, der mit dem Grundgesetz vereinbar ist.
„Wir benötigen genau zwei Sonderhaushalte.”
Das ist Trickserei. Mit dem Fonds würden Sie die Schuldenbremse umgehen.
Nein. Die Schuldenbremse im laufenden Haushalt wird buchstabengetreu eingehalten. Wir schaffen lediglich einen begrenzten zusätzlichen Investitionsetat, der nach einem festen Zeitplan ausläuft. Das ist wie beim Sondervermögen für die Bundeswehr.
War es richtig, diesen Sonderfonds einzurichten?
Allerdings. Deutschland hat mindestens 15 Jahre lang zu wenig Geld für Verteidigung ausgegeben. Diese Versäumnisse lassen sich nicht im regulären Haushalt ausgleichen, deshalb das Sondervermögen. So ähnlich ist es mit dem Investitionsbedarf für die staatliche Infrastruktur und den Umbau der Wirtschaft.
Immer mehr Geld für immer neue Schattenhaushalte: Ist das der richtige Weg?
Nein. Die Bundesregierung muss den Wildwuchs der Sonderhaushalte, der in den letzten Jahren entstanden ist, dringend durchforsten. Wir benötigen, systematisch betrachtet, genau zwei Sonderhaushalte, den für die Bundeswehr und den für Investitionen und Infrastruktur. Mehr sollten es nicht sein, aber die zwei sind wichtig. Wer den Transformationsfonds nicht aufstocken will, muss die Frage beantworten, wo das nötige Geld dafür sonst herkommen soll.
Wie wäre es mit sparen?
Das ist bei den Summen illusorisch, wenn man berücksichtigt, welche finanzielle Dynamik sich allein in den Sozialversicherungen aufbaut. Da wären Einschnitte erforderlich, wie sie keine Bundesregierung durchstehen könnte. Auch deshalb erscheint es mir unvermeidbar, ein zusätzliches Budget zu schaffen, das für berechenbare und stetige staatliche Investitionen sorgt.
Wer Schulden aufnimmt, muss sie später zurückzahlen, und zwar mit Zins und Zinseszins. Ist es nicht unmoralisch, diese Last der nächsten Generation aufzubürden?
Im Gegenteil, auf diese Weise wird die Transformationslast gerecht verteilt. Es liegt schließlich im Interesse der nächsten Generation, dass wir ihr eine wettbewerbsfähige Wirtschaft, eine moderne Infrastruktur und einen lebenswerten Kontinent hinterlassen. Das ist inzwischen ebenfalls grundgesetzlich geboten.
Wie meinen Sie das?
Die Verfassungsrichter haben in ihrem Klimaurteil festgestellt, dass die nächste Generation eine Art Rechtsanspruch auf Klimaschutz hat. Deshalb wäre es nur konsequent, sie auch an den Kosten zu beteiligen. Ungerecht dagegen wäre es, sämtliche Lasten, auch aus der Vergangenheit, der aktuellen Generation aufzudrücken und sie zu überfordern.
Es war schon immer so, dass die heute Lebenden in die Zukunft investieren müssen.
Aber diesmal gibt es einen Strukturwandel auf Termin. Deutschland soll im Jahr 2045 klimaneutral sein. Die Juristen kennen den Grundsatz: Unmögliches darf ein Rechtsstaat nicht verlangen. Allein die heutige Generation für diesen gigantischen Umbau zahlen zu lassen, bedeutete dies aber. Den Klimawandel zu bekämpfen, ist eine Jahrhundertaufgabe – entsprechend langfristig sollte das auch finanziert werden. So ist es üblich bei großen Investitionen.
An der Frage, welche Ausgaben Konsum und welche Investition sind, ist der Staat schon häufiger gescheitert. Warum sollte das diesmal anders sein?
Die wissenschaftlichen Institute der Wirtschaft wie der Gewerkschaften haben schon vor Jahren gemeinsam aufgelistet, welche Ausgaben ein staatlicher Fonds stemmen sollte: Investitionen in Straßen, Brücken, Kommunikations- und Energienetze und die Klimawende in der Industrie. Nicht einmal die schärfsten Kritiker unseres Vorschlags würden bezweifeln, dass es sich hier um Investitionen handelt, die dringend notwendig sind.
„Wir sollten uns von den USA nicht blenden lassen.”
Gleichwohl würde der Staat damit tief in wirtschaftliche Strukturen eingreifen. Maßt er sich damit nicht Wissen an, das er nicht hat?
Wenn heute eine marode Autobahnbrücke erneuert wird, können wir sehr genau berechnen, wie das die Transportkosten der betroffenen Unternehmen senkt. Bei der Energiewende wiederum wissen wir, wohin wir wollen. Sind erst einmal genügend Wind- und Solarparks am Netz, kann Energie in Deutschland zu wettbewerbsfähigeren Preisen erzeugt werden. Wir kennen also das Ufer, zu dem wir die Brücke schlagen wollen. Die Unternehmen brauchen aber Zeit, damit sie den Übergang in eine klimaneutrale Zukunft bewältigen können.
Nach derselben Logik plädiert Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck für einen subventionierten Industriestrompreis von sechs Cent je Kilowattstunde. So will er verhindern, dass energieintensive Unternehmen ins Ausland abwandern, wo Elektrizität häufig billiger ist. Was halten Sie davon?
Dass es in Deutschland eine breite Industriestruktur gibt, die von der Grundstoffchemie oder der Stahlerzeugung bis zum Maschinenbau reicht, ist ein großer Standortvorteil. Damit er erhalten bleibt, sollte die Ampelregierung Habecks Vorstoß aufgreifen, aber ergänzt um eine Absenkung der Stromsteuer auf europäisches Niveau.
Viele Experten warnen, dass der Staat eine neue Dauersubvention schafft, die den Wettbewerb verzerrt.
Das sehe ich anders. Zum einen ist die Förderung zeitlich begrenzt, dafür sorgt schon ihre Konstruktion. Wenn die erneuerbaren Energien den Strompreis an der Börse so senken, wie wir das erwarten, reduzieren sich die Staatshilfen automatisch. Und zum Zweiten hat der Staat schon in der Vergangenheit energieintensive Industrien begünstigt, etwa bei der Erneuerbare-Energien-Umlage. Das hat schon damals zu keinen größeren Wettbewerbsverzerrungen geführt, und das würde es auch diesmal nicht tun. Bekommen würden die Subvention zudem nur Firmen, die aus fossilen Energien aussteigen.
Würden die zehn Milliarden Euro, die sich die Bundesregierung den Aufbau einer Intel-Chipfabrik in Magdeburg kosten lässt, ebenfalls in Ihr Investitionsprogramm passen?
Da bin ich eher skeptisch. Natürlich ist es ein legitimer Wunsch, mehr Chipfabriken in Europa zu haben. Aber man sollte sich schon fragen: Sind das die Chips, die für hiesige Wertschöpfungsketten benötigt werden? Dass Intel erst sieben Milliarden und dann zehn Milliarden Euro Subventionen verlangt, klingt nicht nur nach Subventionswettlauf, den doch alle vermeiden wollten. Zudem wird ein unternehmensspezifischer Industriestrompreis garantiert.
Es geht um eine Antwort auf den Inflation Reduction Act der USA, der gezielt europäische Industrieunternehmen über den Atlantik lockt. Soll Europa das ignorieren?
Nein. Aber wir sollten uns auch nicht blenden lassen. Vergessen wir nicht, dass die Biden-Gesetze auch Steuererhöhungen enthalten und dass sie große Chancen für deutsche Firmen bieten. Im Maschinenbau und in der Elektrotechnik freut man sich schon auf die Auftragsflut, die aus den USA zu erwarten ist. Deutschland hat alle Chancen, wenn die Politik ihre Aufgaben erledigt. Dazu gehören eine Investitionsoffensive und ein Standortprogramm, das die bürokratischen und demografischen Hemmnisse in Deutschland löst.
Kann die Bundesrepublik wirtschaftlich wieder so erfolgreich werden wie im vergangenen Jahrzehnt?
Davon bin ich fest überzeugt. Deutschland ist das wirtschaftlich stärkste Land in Europa. Wenn Deutschland zurückfällt, schwächt das auch den Kontinent. Es ist unsere Verantwortung, dass es nicht dazu kommt.
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