IW-Direktor Michael Hüther glaubt, die Europäische Zentralbank handle in der Zinspolitik aus „schlechtem Gewissen”. Was er für die Entwicklung der Inflationsrate erwartet, erklärt er im Interview mit der Passauer Neuen Presse.
„Die EZB läuft Gefahr, bei den Zinserhöhungen zu übertreiben“
Die Inflation ist zuletzt auf 3,8 Prozent gesunken. Ist das ein Grund zur Entwarnung?
Auf allen vorgelagerten Stufen der Preisentwicklung – Einfuhrpreise, Erzeugerpreise, Großhandelspreise – hat sich der Rückgang bis zuletzt deutlich fortgesetzt. Das spricht für eine weitere Beruhigung der Verbraucherpreisinflation. Da im Oktober 2022 die Konsumentenpreise besonders angestiegen waren (Basiseffekt), ist zu erwarten, dass sich der Rückgang zunächst etwas verlangsamt. Die importierten Preisschocks bilden sich aber zurück, die Zinserhöhungen der EZB kommen weiter im realen System an, sodass im kommenden Jahr die Konsumentenpreisinflation auf die Zielgröße der EZB – bei zwei Prozent – zulaufen dürfte.
Ist die nachlassende Teuerung ein Erfolg der strafferen EZB-Geldpolitik oder anderen Faktoren geschuldet, wie den niedrigeren Energiepreisen?
Da in der Eurozone der Inflationsschub 2021/22 zu zwei Drittel importiert war (in den USA nur zu einem Drittel) und damit überwiegend nicht monetär getrieben war, wie von der Bundesbank im Monatsbericht vom Januar 2023 analysiert, ist der Rückgang der dafür verantwortlichen Energiepreise eine wichtige Voraussetzung für die Besserung. Die EZB hat zu spät durch eine Normalisierung ihrer zuvor extrem expansiven Geldpolitik reagiert, um sich Handlungsspielräume zu verschaffen, und droht nun aus schlechtem Gewissen ins Gegenteil zu übertreiben.
Drohen aus den geopolitischen Krisen kurzfristig neue Inflationsrisiken?
Die geopolitischen Krisen bedrohen die Preisniveaustabilität in offenen Volkswirtschaften durch Behinderung oder gar Unterbindung von Logistikketten, so dass die Preise deutlich ansteigen. Das haben wir nach der Pandemie erlebt. Derzeit deutet sich das nicht an; schwer einschätzbar ist aber der letztlich immer politisch getriebene Preis für Rohöl. Sollten die geopolitischen Risiken besonders große Mächte mit militärischer Power fordern, könnte das über die Wechselkurseffekte die Inflationsaussichten verändern. Das ist aber derzeit nicht abzusehen, bei den Finanzmärkten hat sich hinsichtlich des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine eine gewisse Gewöhnung eingestellt, der Hamas-Terror und der Konflikt im Nahen Osten hat für sich genommen keine nachhaltigen Effekte gezeitigt.
Sollte die EZB angesichts der nachlassenden Teuerung und der Rezession in Deutschland das Ruder nun wieder in Richtung Leitzinssenkungen herumwerfen?
Wie angedeutet, läuft die EZB aus schlechtem Gewissen Gefahr, bei den Zinserhöhungen zu übertreiben. Die jetzige Zinspause ist gut begründet. Doch mitunter lassen Äußerungen aus dem Eurosystem, gar auch der Bundesbank den Eindruck entstehen, als wolle man in beispielloser Ungeduld die Konsumentenpreisinflation auf zwei Prozent runterprügeln, auch um den Preis einer Stabilisierungsrezession. Dabei handelt es sich bei der Inflationsnorm um ein mittelfristig zu realisierendes Ziel. Der Raum für Zinssenkungen dürfte 2024 entstehen.
Was muss Deutschland tun, um nicht auf Dauer der „kranke Mann“ Europas zu werden oder zu bleiben?
Deutschland muss die Transformation endlich als wachstumspolitische Herausforderung begreifen, also die Investitionsbedingungen umfassend verbessern. Das Wachstumschancengesetz ist ein richtiger Anfang, die Investitionsprämie müsste aber viel großzügiger gestaltet und der Solidaritätszuschlag abgeschafft werden. Zweitens muss eine Investitionsoffensive in die öffentliche Infrastruktur, verbunden mit Verfahrensbeschleunigung und Bürokratieabbau, glaubwürdig auf den Weg gebracht werden; der Deutschland-Pakt geht in diese Richtung. Drittens muss die Regierung ihrer Verantwortung für verlässlich wettbewerbsfähige Strompreise nachkommen. Das erfordert einen anreizkompatiblen Brückenstrompreis, die Absenkung der Stromsteuer auf EU-Niveau und die Reform der Netzentgelte.
Sollte Deutschland, um sich fit für die Zukunft zu machen, die Schuldenbremse abstreifen oder zumindest verändern, um mehr investieren zu können?
Da kurzfristig eine Reform – wohlgemerkt keine Abschaffung – der Schuldenbremse politisch völlig unrealistisch ist, sollten kurzfristig klare und transparente Bedingungen für Sondervermögen, flexible Tilgungsregelungen für Notfallkredite und eine Überarbeitung der Konjunkturbereinigung vorangebracht werden.
Zum Interview auf pnp.de

Runder Tisch: „Unternehmen in der Bürokratiefalle?”
Der Bürokratieabbau ist zurück auf der politischen Agenda. In ihrer "State of the European Union"-Rede, erklärte ihn Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen jüngst zur Chefsache. Entlastungen für den Mittelstand waren bereits Thema ihrer Rede im letzten ...
IW
Rising Disinformation and the EU Elections 2024: Challenges and Strategies for Europe in Tackling Disinformation
Targeted disinformation campaigns have undeniably left a troubling mark on the global political landscape in recent years. Whether the spread of misinformation by Russian funded actors, or the impact of the likes of Cambridge Analytica and Facebook on recent ...
IW