IW-Ökonom Klaus-Heiner Röhl prognostiziert, dass es auch im Osten Deutschlands bis zum Jahr 2020 vielerorts Vollbeschäftigung geben wird. Im Interview mit dem Onlinemagazin brandeins.de spricht er außerdem über Pendler-Hochburgen und Abwanderungsregionen.
„Bis 2020 haben wir Vollbeschäftigung“
Wo die Wirtschaftszentren in Deutschland sind
Das Bruttoinlandsprodukt je Einwohner in Euro
Herr Röhl, was sehen Sie als Experte auf der Karte, was ein Laie eher nicht sieht?
Zunächst liegt die Vermutung nahe, dass es in den roten Kreisen, in denen das Bruttoinlandsprodukt besonders niedrig ist, viele Arbeitslose gibt. Dies ist jedoch nicht überall der Fall.
Warum?
Die Landkreise, die an Wirtschaftszentren angrenzen, sind zwar ökonomisch schwach, den Menschen dort geht es allerdings nicht schlecht, weil sie in die benachbarten Städte pendeln.
Wohin zum Beispiel?
Aus Gifhorn und Wolfenbüttel pendeln die Einwohner zum großen Teil in die Autostadt Wolfsburg. Die Einwohner des Kreises Trier-Saarburg arbeiten vornehmlich in Trier oder in Luxemburg, die aus Osterholz fahren nach Bremen. Aus dem Kreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge pendeln viele Einwohner nach Dresden. Und auch Ludwigslust-Parchim in Mecklenburg-Vorpommern ist eine Pendler-Hochburg. Die Menschen fahren zur Arbeit nach Schwerin oder nach Hamburg.
Das gilt aber bestimmt nicht für alle roten Kreise, vor allem im Osten Deutschlands.
Es gibt wirtschaftsschwache Regionen wie die östlichen Landkreise von Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg, in denen es gemessen an der Einwohnerzahl nur wenige oder kleine Betriebe gibt. Das führt dazu, dass das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf sehr niedrig ist, obwohl es kaum Auspendler gibt. Zudem ist dort die Arbeitslosigkeit hoch. Generell ist das Bruttoinlandsprodukt im Osten immer noch etwa 30 Prozent niedriger als im Westen. Dresden, Leipzig, Chemnitz, Jena, Erfurt, Rostock, Potsdam und Berlin kommen zwar auf vergleichsweise gute Werte, erreichen aber bei weitem nicht die der meisten westdeutschen Städte.
Woran liegt das?
Die hohe Arbeitslosigkeit war lange Zeit ein Problem. Sie ist immer noch höher als im Westen, fällt aber jedes Jahr – aber auch, weil aufgrund des demografischen Wandels immer weniger Arbeitskräfte zur Verfügung stehen. Eine Angleichung an den Westen ist unter diesen Bedingungen nahezu unmöglich. Ich bin mir dennoch sicher, dass es ab dem Jahr 2020 auch im Osten kaum noch Arbeitslose und vielerorts Vollbeschäftigung geben wird, wenn es zu keiner größeren Wirtschaftskrise kommt.
Überraschenderweise liegen die ärmsten Kreise nicht im Osten Deutschlands, sondern in Rheinland-Pfalz.
Die Südwestpfalz ist eine besonders strukturschwache Region, der schon lange arbeitswillige Menschen den Rücken kehren. Außerdem hat Rheinland-Pfalz noch sehr kleine Kreise. In anderen Bundesländern wären Städte wie Pirmasens und Landau in der Pfalz längst mit den angrenzenden Kreisen verschmolzen. Würde man beispielsweise Pirmasens mit der Südwestpfalz zusammenführen, hätten sie zusammen ein Bruttoinlandsprodukt von mehr als 20.000 Euro pro Einwohner – nicht hoch, aber auch nicht mehr so auffallend niedrig wie jetzt.
Gibt es solche Verzerrungen auch anderswo?
Schauen Sie sich den Süden Deutschlands einmal genauer an. In Baden-Württemberg sehen Sie vornehmlich große grüne Flächen. In Bayern sehen Sie eher viele grüne Punkte, umschlossen von großen roten Flächen. Dort sind Städte wie Amberg, Bayreuth oder Coburg ebenfalls noch kreisfrei. Daher könnte man meinen, in Baden-Württemberg sei das Bruttoinlandsprodukt höher als in Bayern – ist es aber nicht. Nach einer Kreisreform sähe es in Bayern auch so aus wie im benachbarten Baden-Württemberg.
Sehr ähnliche Werte weisen auch Duisburg und Dresden auf. Ist die Lage der Menschen zu vergleichen?
Nein, weil der Osten in der Gesamtentwicklung immer noch hinter dem Westen liegt. Relativ gesehen ist Dresden also besser dran als Duisburg, auch wenn beide Städte formal das gleiche Bruttoinlandsprodukt haben. Doch in Dresden geht die Arbeitslosenquote zurück, die Wirtschaft wächst und die Zuversicht der Einwohner steigt. In Duisburg das genaue Gegenteil: hohe Arbeitslosenquote und eher Stagnation.
Zum Interview auf brandeins.de
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