Noch nie hat die deutsche Wirtschaft so viel in China investiert wie im ersten Halbjahr 2022. Eine gefährliche Entwicklung, sagt IW-Außenwirtschaftsexperte Jürgen Matthes im Interview mit dem Tagesspiegel.
„Es ist höchste Zeit für ein Ende der Naivität“
Herr Matthes, im ersten Halbjahr 2022 haben deutsche Unternehmen so viele Direktinvestitionen in China getätigt wie nie zuvor. In einem Bericht schreiben Sie: „Mit Vollgas in die falsche Richtung.“ Warum?
Spätestens wenn wir von einer „Zeitenwende“ sprechen, müsste uns auffallen, wie riskant es ist, dass wir unsere ohnehin große Abhängigkeit von China noch verstärken. Am Beispiel Russland sehen wir, wie schnell wirtschaftliche Abhängigkeiten bei geopolitischen Konflikten instrumentalisiert werden können, in diesem Fall Gas. Bei China bewegen wir uns schwungvoll und auf breiter Basis noch tiefer hinein. Vor dem Hintergrund eines möglichen chinesischen Überfalls auf Taiwan ist das problematisch.
Die deutschen Investitionen in China sind schon nach der Hälfte des Jahres 2022 höher als bislang alle Gesamtjahreswerte in diesem Jahrhundert. Wie erklären Sie sich das?
Wir wissen, dass einzelne Unternehmen viel investieren wollen in China. Das meiste davon wird noch vor der russischen Invasion der Ukraine geplant worden sein, weil solche Investitionen längere Vorlaufzeiten haben. Deutsche Firmen wollen zudem stärker lokalisieren, also immer mehr Geschäftstätigkeiten nach China verlagern.
Was heißt das für die deutsche Wirtschaft?
Das sollte uns Sorgen machen. Denn es findet womöglich ein allmähliches Abkoppeln vom deutschen Markt statt. Auch bei den Zulieferern deutscher Firmen in China soll immer mehr aus China selbst kommen, das will auch die chinesische Regierung so. Manche deutsche Firmen planen, dort hergestellte Produkte in andere asiatische Länder oder sogar nach Deutschland zurückzuexportieren. Für den Standort Deutschland und hiesige Arbeitsplätze wäre das eine Gefahr.
Was droht, falls China in Taiwan einmarschieren sollte?
Die Frage, die sich jetzt jedes deutsche Unternehmen stellen muss, ist: Was wäre, wenn der Westen China als Reaktion auf eine völkerrechtswidrige Invasion hart sanktioniert und deswegen Firmen ihr Geschäft dort stark herunterfahren oder sogar aufgeben müssten? Oder wenn China selbst sagt: Wir unterbinden die Absatzmöglichkeiten deutscher Unternehmen. Könnte die Firma das überleben? Bei manchem großen deutschen Unternehmen mit einem starken China-Fokus bin ich da nicht so sicher.
Das heißt, eine Entkopplung vom chinesischen Markt ist das Gebot der Stunde?
Nein, das nicht. Wir können und sollten uns nicht über Nacht von China abwenden. Aber Unternehmen dürfen sich nicht zu stark von Wohl und Wehe des chinesischen Markts abhängig machen.
Könnte sich Deutschland ein Handelsstopp exportseitig überhaupt leisten?
Ja und nein. Vom Export nach China hängen etwas mehr als eine Million deutscher Arbeitsplätze ab. Das hört sich nach viel an, ist gegenüber den mehr als 45 Millionen Jobs in Deutschland aber nur ein Anteil von gut 2,5 Prozent. Wir sollten also die exportseitige Abhängigkeit von China auch nicht übertreiben.
Und bei Importen? Deutschland importiert viel mehr aus China, als es exportiert.
Ja, das Handelsbilanzdefizit ist im ersten Halbjahr auf über 40 Milliarden gestiegen – ein neuer Höchstwert. Bei den Importen könnte die Abhängigkeit von einzelnen Gütern auch wehtun, ähnlich wie bei russischem Gas. Denken Sie an wichtige Rohstoffe wie Seltene Erden, bei denen China ein sehr wichtiger Produzent ist, die kurzfristig kaum ersetzbar sind und ohne die viele technische Produkte nicht funktionieren. Deshalb müssen wir auch in Europa und befreundeten Staaten den Abbau Seltener Erden vorantreiben.
Reden wir nur von einzelnen Produkten?
Auch in der Breite ist China, anders als Russland, ein wichtiger Lieferant, mit einem Anteil von über zwölf Prozent im ersten Halbjahr. Wenn wir nach einem chinesischen Angriff auf Taiwan den Handel weitgehend einstellen müssten, hätten wir hier wohl eine Zeit lang einige leere Regale und viele Probleme in den Lieferketten. Es braucht daher auch importseitig mehr Diversifizierung. Freihandelsabkommen mit den Asean-Staaten sind nötig, um Chinas Gewicht zu reduzieren.
Was kann die Politik tun?
Auf EU-Ebene gehört das auf Eis gelegte Investitionsabkommen mit China endgültig in den Papierkorb. Und die Bundesregierung sollte staatliche Investitionsgarantien für China komplett abschaffen.
So wie es Wirtschaftsminister Habeck im Mai erstmals bei VW und dessen Tätigkeit in Xinjiang getan hat – einer Region, in der Millionen Uiguren unterdrückt werden.
Ja. Nur grundsätzlich und auch unabhängig von Menschenrechtsfragen. Die Botschaft an die Firmen sollte sein: Seid vorsichtiger und kalkuliert geopolitische Risiken ein. Wenn ihr noch mehr in China macht, dann auf eigene Gefahr. Spätestens seit der jüngsten Eskalation um Taiwan muss klar sein, dass es nicht Aufgabe der Steuerzahler ist, Unternehmen nach der alten Too-big-to-fail-Logik zu retten wie in der Bankenkrise. Das setzt natürlich auch ein politisches Signal.
Die Bundesregierung hat nur begrenzten Einfluss auf die Unternehmen. Wie kann sie trotzdem lenken?
Da ist einiges möglich. Die Regierung sollte die Firmen zu einer Berichterstattung über geopolitische Klumpenrisiken und die damit verbundenen Verlustrisiken anhalten – und Notfallpläne einfordern. Zudem geht es um individuelle Ansprache: Den roten Teppich, den Angela Merkel bei ihren Chinareisen ausgerollt hat, wird es nicht mehr geben. Künftig geht die Reise stattdessen nach Indien oder Indonesien, um da neue Geschäftsmöglichkeiten anzubahnen, gemeinsam mit den dortigen Regierungen.
Umgekehrt wird diskutiert, ob sich der chinesische Staatskonzern Cosco am Hamburger Hafen einkaufen darf, was Robert Habeck offenbar untersagen will.
Die Verletzlichkeit kritischer Infrastruktur ist generell ein Riesenthema, Stichwort 5G-Netz und Huawei. Wenn sich Spionage- oder Sabotagemöglichkeiten technisch nicht ausschließen lassen, sollte man sehr vorsichtig damit sein, einem chinesischen Unternehmen hier dauerhaften Zugang zu ermöglichen.
China schafft mit seinem Seidenstraßen- Projekt weltweit wirtschaftliche Abhängigkeiten, etwa in Afrika und Lateinamerika. Was bedeutet das für Deutschland?
Es ist höchste Zeit für ein Ende der Naivität. Das sind Länder, deren Rohstoffe auch wir für unsere Wirtschaft und Energiewende brauchen. Da sich China vielerorts mit günstigen Krediten längst exklusiven Zugang gesichert hat, muss man leider sagen: Wir sind zu spät aufgewacht.
Hat „der Westen“ in diesen Ländern überhaupt noch Einflussmöglichkeiten?
Weil sich mancher Deal mit China für die beteiligten Länder als Schuldenfalle erweist, könnte sich hier und da wieder eine Tür öffnen. Wir können mit besseren, faireren Angeboten auf Entwicklungsländer zugehen, die sich von China unfair behandelt fühlen, wenn etwa wie in Sri Lanka durch die Schuldenabhängigkeit ein ganzer Hafen für 99 Jahre an China verpachtet werden muss. Den internationalen Rohstoffzugang müssen wir viel strategischer angehen als bisher.
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