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Dominik Enste in der ZEIT Interview 17. August 2023

„Wir haben viel zu verlieren”

Seit Wochen verkünden Schlagzeilen den Niedergang Deutschlands. Wie reagiert die Gesellschaft darauf? IW-Verhaltensökonom Dominik Enste bleibt optimistisch und präsentiert im Interview mit der ZEIT eine einfache Formel für den Ausweg.

Herr Enste, ich möchte Ihnen ein paar Überschriften aus den vergangenen Wochen vorlesen: »Deutschland schmiert ab« – »Auf die Inflation folgt die Rezession« – »Lage für Deutschland besonders düster« – »Renten-Krise führt zum Wohlstandsverlust für alle« – »Klimakrise: Wird in Deutschland das Trinkwasser knapp?«. Wenn man die Nachrichten verfolgt, wirkt es, als steuerten wir auf den Untergang zu. Was macht das mit uns?

Das Gefühl, dass eine Krise stets die nächste bedingt und der Krisenmodus zur Normalität wird, kann zu einer Trotzreaktion und Reaktanz führen. Oder, wenn die Situation ausweglos wirkt, auch zu Überforderung bis hin zu psychischen Problemen wie bei einem Burn-out.

Welche Faktoren entscheiden darüber, ob wir produktiv und anpackend auf eine Krise reagieren oder verzweifelt oder defätistisch?

Der wichtigste Faktor ist Vertrauen. Ob man in der Vergangenheit also Vertrauen in die eigenen Kräfte entwickeln konnte und ob man jenen Institutionen vertraut, die die gesellschaftlichen Probleme lösen müssen. Zunächst wären das der Staat oder konkret die Regierung. Aber auch die Wirtschaft – ist sie zukunftsfähig? Der zweite Faktor ist die Resilienz, die widerstandsfähige, aber nicht starre Reaktion in schwierigen Phasen.

Der Glaube an sich selbst, das legen Umfragen nahe, schwindet im Land. Viele blicken pessimistisch in die Zukunft und halten die deutsche Gesellschaft für ungerecht, gespalten, unsolidarisch. Steht zu befürchten, dass das Land angesichts der vielen Krisen resigniert?

So eindeutig sind die Fakten nicht. In einer Studie haben wir Anfang des Jahres die Resilienz in OECD-Staaten analysiert. Deutschland steht im Vergleich sehr gut da, sowohl was den Zusammenhalt angeht als auch das Vertrauen in die Politik oder Wirtschaft. Das ist auch das Ergebnis von 75 Jahren positiver Wohlstandsentwicklung.

Die aber wohl an ihr abruptes Ende gekommen ist. Dass der Kanzler ein neues Wirtschaftswunder beschworen hat und sich die Regierung zumindest öffentlich so optimistisch zeigt, wirkt regelrecht entkoppelt von der Realität. Eine Mehrheit der Menschen hält den Umgang der Ampel mit der Wirtschaftskrise für inkompetent, teils sogar undemokratisch. Auch die hohen Umfragewerte der AfD zeugen von einem tiefen Misstrauen gegenüber der Arbeit der Regierung.

Das sind ernste Warnsignale. Aber wenn man von der Gesellschaft verlangt, dass sie sich rasch verändern soll – anders heizen und leben oder weniger Auto fahren zum Beispiel –, ist es normal, dass es Widerstand gibt. Die politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Voraussetzungen, die aktuellen Krisen zu bewältigen, sind dennoch besser als in vielen anderen Ländern.

Im vergangenen Jahr befürchteten wegen der Gasknappheit viele einen »heißen Herbst«, einen Aufstand der Wütenden. Der blieb dann aus. Leiden wir unter chronischer Schwarzmalerei?

Das ist kein rein deutsches Phänomen. Der Mensch fokussiert evolutionär bedingt auf Gefahren und Probleme und möchte Verluste vermeiden. Der Psychologe und Nobelpreisträger Daniel Kahneman hat das mit dem Satz „losses loom larger than gains” beschrieben: Verluste wirken doppelt so schmerzhaft, wie gleich hohe Gewinne positiv empfunden werden. Und im wohlhabenden Deutschland haben wir viel zu verlieren.

Das haben andere Industriestaaten auch, dennoch scheinen sie unterschiedlich mit Krisen umzugehen. Je nach Perspektive wird Deutschland wahlweise Besonnenheit oder Zaudern nachgesagt. Reagieren wir anders auf Krisen als etwa Franzosen oder Amerikaner?

Unser politisches System baut stärker auf Konsens als das vieler anderer Länder. Republikaner und Demokraten in den USA arbeiten gegeneinander, auch in Frankreich sind die unterschiedlichen Koalitionen, wie wir sie haben, weder vorgesehen noch vorstellbar. Das bedächtige Aushandeln hat sich in Deutschland bewährt. Hauruck-Entscheidungen, die ohne Debatte getroffen werden, fallen uns meist auf die Füße und haben hohe politische und gesellschaftliche Folgekosten. Das galt in der Flüchtlingskrise ebenso wie beim Atomausstieg oder bei den Corona-Maßnahmen.

Das sind allesamt unerwartete, aber greifbare politische Situationen, in denen kurzfristige Entscheidungen getroffen wurden, vielleicht sogar getroffen werden mussten. Der Klimawandel, die Kaufkraftkrise oder der Fachkräftemangel wirken deutlich komplexer. Viele Menschen denken: Mein eigenes Handeln spielt fürs große Ganze keine Rolle, ich bin der Situation ausgeliefert.

Es geht dabei viel um Kommunikation. An der Akademie des Instituts der deutschen Wirtschaft haben wir das auf eine einfache Formel gebracht: Wahrnehmung mal Wissen mal Wollen gleich Wandel.

Die Formel müssen Sie erklären.

Erstens muss es ein Bewusstsein dafür geben, dass etwas schiefläuft und sich das ändern muss. Zweitens braucht es Wissen darüber, was getan werden muss, um die Krise zu bewältigen. Und schließlich braucht es einen gesellschaftlichen Willen zu diesen Veränderungen. Liegt der Wert nur eines der drei Faktoren bei null, bewegt sich nichts.

Wirtschaftsminister Robert Habeck sagte vergangene Woche in einem ZEIT-Interview: „Das ist eine Situation, die wir bestehen können, wenn wir es denn wollen.” Als sei es eine Frage der Motivation, durch die Krise zu kommen. Hapert es wirklich am Willen?

Es hapert momentan eher an einer glaubwürdigen Vermittlung und Strategie durch die Politik, wie die hohen moralischen Ziele erreicht werden können. Es ist der Regierung nicht gelungen, eine Vision einer nachhaltigen, veränderten Gesellschaft zu entwickeln oder die der Rolle Deutschlands als Vorbild in der Welt. Mit feministischer Außenpolitik kann fast niemand etwas anfangen, die Chinastrategie klingt diffus, und wie die Klimaziele ohne massive Wohlstandsverluste erreicht werden sollen, ist auch offen. Wenn die einzelnen Schritte, wie man die Krisen bewältigen möchte, derart unklar bleiben, schwindet das Vertrauen – und somit auch der Willen.

Was schlagen Sie vor?

Stärker zu vermitteln, wie der Einzelne mithelfen kann, ohne ihm dabei ein schlechtes Gewissen zu machen. Denn noch mal: Die Widerstandsfähigkeit in Deutschland ist vorhanden, sowohl materiell als auch institutionell, industriell und gesellschaftlich.

Die Wahrnehmung ist eine andere. Eine starke Wirtschaft ist, im Prinzip seit Gründung der Bundesrepublik, Teil ihrer Identität: das Land der Ingenieure, das Qualitätssiegel „made in Germany”, die weltweit führende Automobilindustrie. Dies alles wird derzeit infrage gestellt. Während in anderen Ländern die Wirtschaft wieder wächst, schrumpft sie hierzulande weiter. Stehen wir nicht eher am Beginn einer nationalen Identitätskrise?

Das Wirtschaftsmodell Deutschlands baut auf energieintensive Industrien, daher ist es auf dem Weg zur CO₂-Neutralität stärker bedroht als das anderer Länder. Auch die hohe Außenhandelsquote kann zum Problem werden, wenn Abnehmer wie China unzuverlässiger werden. Die Ängste sind also nicht unberechtigt. Aber: CO₂ einzusparen trotz Wirtschaftswachstum, das ist Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten bereits extrem gut gelungen. Es ist nicht unmöglich, wenn Nachhaltigkeit und Wirtschaft zusammengedacht und die Leute dabei mitgenommen werden.

Welche Rolle spielt die Identifikation mit dem eigenen Land bei der Frage, ob man in der Krise die Ärmel hochkrempelt oder eher den Kopf in den Sand steckt?

Nationalstolz ist weniger relevant als das gesellschaftliche Miteinander innerhalb einzelner Gruppen. Es braucht keine Identifikation mit der Nation, man kann auch in der Kommune, in der Stadt, in der Region etwas tun. Auch hier greift das Prinzip: Wahrnehmung mal Wissen mal Wollen.

Sie sprachen eingangs davon, dass es neben Vertrauen vor allem Resilienz brauche, um eine Krise aktiv anzugehen. Was heißt das genau?

Resilienz darf man nicht mit Robustheit verwechseln. Denken Sie an eine Eiche: Die trotzt, scheinbar unerschütterlich, Wind und Wetter. Doch kommt ein Blitzeinschlag – eine schwere Krise –, ist sie zerstört. Resilienz meint, einer Krise zu trotzen, indem man Willen zur Veränderung aufbringt und nicht starr an etwas festhält, nur weil es bislang funktioniert hat. Anfang der Nullerjahre galt Deutschland schon einmal als „kranker Mann Europas”. Damals hat Rot-Grün den Arbeitsmarkt reformiert. Die Koalition ist dafür abgestraft worden. Aber Deutschland kam aus der Krise.

Was lässt sich daraus lernen?

Man braucht Mut zu unpopulären Entscheidungen, muss diese aber gut erklären. Politik, Wirtschaft und Gesellschaft können es nur gemeinsam schaffen. Ein Beispiel: Wir müssten künftig eigentlich mehr und länger arbeiten – auch wenn ich den Wunsch nach weniger Arbeitszeit verstehen kann. Aber zwei große Krisen ließen sich so abschwächen: der Fachkräftemangel und das kaum zu finanzierende Rentensystem. Hier könnte tatsächlich jeder Einzelne ganz konkret helfen.

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