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Hagen Lesch in der Süddeutschen Zeitung Gastbeitrag 21. November 2010

Neue Konkurrenz

Das Bundesarbeitsgericht hat die Tarifeinheit aufgegeben. Hagen Lesch, Tarifexperte im Institut der deutschen Wirtschaft Köln, schreibt in der Süddeutschen Zeitung: Dies könnte die Löhne nach oben treiben.

Die Tarifeinheit war über Jahrzehnte ein elementares Ordnungsprinzip der deutschen Tarifpolitik. Sie legte fest, dass in einem Arbeitsverhältnis oder in einem Betrieb immer nur ein Tarifvertrag Anwendung findet. Schlossen mehrere Gewerkschaften für einen Betrieb konkurrierende Tarifverträge ab (Tarifpluralität), galt laut höchstrichterlicher Rechtsprechung der speziellere Tarifvertrag. Beispielsweise ging der Firmentarifvertrag dem Flächentarifvertrag vor und ein Tarifvertrag, der den gesamten Betrieb abbildet, hatte Vorrang vor einer Regelung für eine einzelne Berufsgruppe.

Tarifpolitische Konkurrenzen unter den im Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) zusammengeschlossenen Gewerkschaften oder zwischen DGB-Gewerkschaften und Dritten – etwa der Deutschen Angestellten Gewerkschaft, den christlichen Gewerkschaften oder dem Deutschen Beamtenbund– wurden regelmäßig im Sinne der Tarifeinheit gelöst. Mit dem Auftreten tarifpolitisch eigenständiger Berufsgewerkschaften hat sich in den vergangenen Jahren allerdings in der Luftfahrt, im Schienenverkehr und in Krankenhäusern Tarifpluralität durchgesetzt. Dort gelten in den Unternehmen mehrere Tarifverträge.

Das Bundesarbeitsgericht hat die Tarifeinheit jüngst aufgegeben, weil sie die Koalitionsfreiheit kleiner Gewerkschaften beschränke und nicht mehr die betriebliche Wirklichkeit abbilde. Arbeitgeber und Gewerkschaften befürchten nun, dass sich weitere Berufsgewerkschaften bilden. Die Dachverbände warnen in einer gemeinsamen Initiative vor einer Zersplitterung des Tarifsystems mit der Folge permanenter Tarifauseinandersetzungen, die in "britischen Verhältnissen" münden könnten. In Großbritannien gab es in den 1970-er Jahren mehr als 400 Gewerkschaften, darunter zahlreiche Berufsgewerkschaften, die vor allem in der Industrie immer wieder zu Arbeitsniederlegungen aufriefen.

Ein zunehmender Gewerkschaftswettbewerb wäre in der Tat problematisch. Berufsgewerkschaften vertreten allein berufsständische Interessen und tragen eine "solidarische Lohnpolitik" nicht mit. Im Vergleich zu einer Branchengewerkschaft können sie die Preis- und Beschäftigungswirkungen ihrer Abschlüsse eher vernachlässigen, entsprechend höhere Löhne fordern und aufgrund ihrer Stärke auch durchsetzen. Damit haben bestimmte Berufsgruppen einen Anreiz, sich abzuspalten. Als durchsetzungsstark haben sich bisher die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer, die Ärztegewerkschaft Marburger Bund, die Pilotenvereinigung Cockpit, die Gewerkschaft der Flugsicherung und die Unabhängige Flugbegleiterorganisation erwiesen. Diese Berufsgewerkschaften haben ihre tarifpolitische Eigenständigkeit gegen den Willen der Arbeitgeber durchgesetzt und Tarifpluralität erzwungen.

Wie viele Spezialgewerkschaften sich noch gründen werden und wie sich dies tarifpolitisch auswirkt, hängt davon ab, welche Berufsgruppen das Potenzial haben, sich in schlagkräftigen und damit tariffähigen Gewerkschaften zu organisieren, und wie frei diese dann nach ihrer Gründung agieren können. Eine erfolgreiche Gewerkschaftsgründung setzt einen hohen Organisationsgrad und eine hohe Streikfähigkeit voraus. Zur Mobilisierung sind eine große Interessenhomogenität innerhalb der Berufsgruppe notwendig sowie ein gemeinsames Kampfziel, das sich aus einem kollektiv empfundenen Ungerechtigkeitsgefühl ergeben kann. Das wiederum setzt hohe Transparenz bei Entlohnung, Arbeitszeiten und anderen Arbeitsbedingungen voraus.

Wie groß die Zahl der Berufsgruppen ist, für die diese Voraussetzungen gelten, wird kontrovers diskutiert. Ob Gewerkschaftswettbewerb bestimmten Spielregeln unterworfen werden sollte, hängt aber nicht allein von dieser Diskussion ab. Schon der bestehende Wettbewerb und seine drohende Zunahme haben Auswirkungen. Der durch Berufsgewerkschaften angefachte Wettbewerb kann schnell zu einem Prozess sich aufschaukelnder Lohnforderungen führen. Zum einen wecken Abschlüsse der einen Berufsgewerkschaft Begehrlichkeiten bei der nächsten. Zum anderen werden die Branchengewerkschaften zu einer expansiveren Lohnpolitik gezwungen, um zu verhindern, dass sich weitere Berufsgruppen abspalten. Das gilt auch für Branchengewerkschaften, die bislang noch nicht mit konkurrierenden Berufsgewerkschaften konfrontiert worden sind.

Allein die Gefahr der Abspaltung führt zu verändertem Verhalten. Damit wirken Berufsgewerkschaften weit über den Geltungsbereich ihrer Tarifabschlüsse hinaus. Die Folgen: Zum einen ist generell mit höheren Lohnforderungen zu rechnen; zum anderen werden mehr Konflikte auftreten. Das bleibt nicht ohne makroökonomische Auswirkungen: Eine größere Lohndynamik bedeutet, dass die Unternehmen versuchen werden, höhere Kosten auf die Güterpreise zu überwälzen. Wo dies nicht gelingt, wird verstärkt rationalisiert oder verlagert. Hinzu kommen verteilungspolitische Auswirkungen. Berufsgewerkschaften erzwingen eine Differenzierung der Löhne nach der faktischen Streikmacht, aber nicht unbedingt nach den Wertschöpfungsbeiträgen der einzelnen Berufsgruppen. Das ist weder effizient noch gerecht.

Die ökonomische Wirkung von Tarifpluralität und Gewerkschaftswettbewerb ist also schon jetzt problematisch. Die Abkehr von der Tarifeinheit in der Rechtsprechung kann die Probleme noch verschärfen. Dem will die gemeinsame Initiative von BDA und DGB vorbeugen. Sie verknüpft die Tarifeinheit mit dem Mehrheitsprinzip: Bei konkurrierenden Tarifverträgen soll nur der Tarifvertrag anwendbar sein, an den die Mehrzahl der Gewerkschaftsmitglieder im Betrieb gebunden ist (repräsentativer Tarifvertrag). Schließt eine Branchengewerkschaft einen Tarifvertrag, kann dieser künftig auch nicht mehr per Streik durch einen berufsspezifischen Tarifvertrag verdrängt werden, da ein repräsentativer Tarifvertrag über seine Laufzeit hinweg eine Friedenspflicht sichern soll.

Der Vorstoß enthält eine wirksame Anreizwirkung: Um repräsentative Tarifverträge abschließen zu können, müssen sich Berufsgewerkschaften für viele Berufsgruppen öffnen. Nur so können sie eine ausreichende Mitgliederzahl gewinnen. Damit würden sie die Preis- und Beschäftigungswirkungen ihrer Abschlüsse stärker berücksichtigen. Da die Gefahr der Zersplitterung der Gewerkschaften gebannt wäre, würde die Aufschaukelungsdynamik gebremst.

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