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(© GettyImages)
Michael Hüther im Handelsblatt Gastbeitrag 23. Februar 2022

Die Friedensdividende ist verbraucht: Putin, Russland und die verspätete Nation

Aus der angeblichen historischen Einheit Russlands mit der Ukraine kann keine Zukunft entstehen, schreibt IW-Direktor Michael Hüther in einem Gastbeitrag für das Handelsblatt.

Wladimir Putins Angriff auf die Donbass-Gebiete der Ukraine führt uns deutlich vor Augen, dass die Friedensdividende des Endes des Kalten Krieges endgültig aufgebraucht ist. Wie bis zum Jahr 1990 sehen wir uns nun erneut durch einen " Wettstreit der großen Mächte" (Global Power Competition) herausgefordert, und zwar politisch und ökonomisch. Die Hoffnungen, die vor gut dreißig Jahren berechtigt erscheinen mochten, haben sich nicht erfüllt.

Und das gilt nicht nur hinsichtlich Russlands, für das man seinerzeit auf eine ökonomische und sicherheitspolitische Integration gesetzt hatte, sondern ebenso mit Blick auf die Volksrepublik China, für die man auf Basis der Modernisierungshypothese eine durch Freihandel und wirtschaftliche Integration ermöglichte Demokratisierung des Systems erwartet hatte. Der Systemkonflikt, der aus dem Wettbewerb unterschiedlicher Ordnungsmodelle und volkswirtschaftlicher Strukturen entstanden ist, fordert den transatlantischen Westen heraus, neue Positionen zu beziehen.

Diese sind aber angesichts schwindender Bindung zwischen den USA und Europa oder unterschiedlicher Bewertungen der notwendigen Verteidigungsleistungen nicht einfach zu formulieren. Die gemeinsame Sicherheit ist ebenso herausgefordert wie das Verständnis politischer und ökonomischer Identität, kurzum: Demokratie und Marktwirtschaft als zwei Seiten einer Medaille zu verstehen. Das führt zu grundlegend veränderten Aussichten für die Globalisierung, die bereits seit der Finanz- und Wirtschaftskrise in den Jahren 2008 09 deutliche Tendenzen einer Erschöpfung zeigt.

Der Welthandel expandiert nicht mehr schneller als die Weltproduktion, was den Stillstand der grenzüberschreitenden Arbeitsteilung markiert. Seit geraumer Zeit sind verschärfte protektionistische Eingriffe zu verzeichnen; für die Welthandelsorganisation fehlt nicht zuletzt aufgrund der amerikanischen Blockadehaltung eine überzeugende Perspektive, wie sie reanimiert werden könnte.

Die Erschöpfung der Globalisierung reflektiert deshalb stets auch binnenwirtschaftliche Probleme in den großen Staaten: in den USA beispielsweise die regionale und gesellschaftliche Spaltung, in China die Sorge vor der demografischen Alterung, in Russland die Angst vor der ökonomischen Deklassierung angesichts der Dekarbonisierung des Westens bei gleichzeitig geringen russischen Forschungsausgaben, die sich lediglich auf ein Prozent des Bruttoinlandprodukts belaufen.

Die weltwirtschaftliche und geopolitische Gemengelage ist also eigentlich schon verworren genug. Alle fragen sich, was Russlands Präsident Putin treibt - und zwar im doppelten Sinne: Was treibt ihn an? Was hat er vor? Den ideologischen Überbau für eine weitere Eskalation der militärischen Auseinandersetzung zu einem Krieg hat er sich durch seine Ausflüge in die Historiografie selbst gebastelt. Die angebliche Einheit Russlands mit der Ukraine ist heute allerdings so irrelevant wie die lange Zugehörigkeit von Teilen Polens zu Preußen.

Daraus kann keine Zukunft entstehen. Es ist unübersehbar, dass Russland - oder vielmehr seine Führungsspitze - ein Identitätsproblem hat nach Art einer speziellen Variante der "verspäteten Nation". Vielvölkerstaaten der frühen Neuzeit waren anders als kulturell konsistenter gefasste Staatsgebilde regelmäßig von den Nationenbildungsprozessen im 18. 19. Jahrhundert ausgeschlossen.

Dabei ging die kulturelle Vielfalt meist mit geografischer Unbestimmtheit einher, die schon an sich konfliktträchtig ist. Verspätete Nationenbildung wendet sich heute gegen transnationale Strukturen - wie in Polen und Ungarn gegenüber der Europäischen Union - oder äußert sich in außenpolitischen Aggressionen, begrenzter Kooperationsneigung und hegemonialen Versuchungen, wie beispielsweise in der Türkei zu beobachten ist. Vor diesem Hintergrund lässt sich - soweit es überhaupt rational möglich ist - Putins Bestreben einordnen, die Einflusszonen der Sowjetunion zu reaktivieren.

Diese Strategie bietet aus Sicht des russischen Präsidenten offenbar die Chance, von innenpolitischen Problemen ablenken zu können. Die schwache Innovationskraft als entscheidendes Manko setzt sich fort in der Forschungsschwäche der Universitäten. Der Weg zu einer wirtschaftlichen Basis unabhängig von den Rohstoffexporten ist sehr weit. Die dafür benötigten Ausstattungsgüter - Maschinen, chemische Erzeugnisse, Elektrotechnik, Metallwaren, Mess- und Regeltechnik - müssen größtenteils importiert werden, sie machen über 60 Prozent der Einfuhren aus. Dagegen bestehen die Ausfuhren zu fast 50 Prozent aus Roh- und sonstigen Grundstoffen.

Unverändert gilt, dass Russland ökonomisch viel schwächer ist, als es sich politisch fühlt und militärisch geriert. Den Schwenk der russischen Außenpolitik von Europa nach China kann man als Versuch deuten, dieser Schwäche Rechnung zu tragen und mögliche Antworten auf die zu erwartenden westlichenSanktionen zu finden. Allerdings wäre Putin naiv, wenn er auf eine nahezu kongeniale Kooperationsbereitschaft der Chinesen setzen würde - die Betonung der territorialen Integrität der Ukraine durch den chinesischen Außenminister auf der Münchner Sicherheitskonferenz war ein deutlicher Fingerzeig.

Auch Chinas Zurückhaltung nach der russischen Aggression in den Regionen Donezk und Luhansk lässt erkennen, dass die Vorteile einer engeren Zusammenarbeit aus Pekinger Sicht begrenzt sind. Der wirtschaftliche Partner auf Augenhöhe ist der Westen,nicht Russland. Und die eigenen machtpolitischen Interessen wird Peking keinem einzigen Partner unterordnen. So läuft Putin Gefahr, sein Land dauerhaft zu isolieren. Denn der Verstoß gegen die Grundsätze des Völkerrechts trifft weltweit fast ausnahmslos auf Widerspruch und Ablehnung. Die Ausnahmen Präsident Ortega in Nicaragua oder Sahra Wagenknecht relativieren diesen Befund wohl kaum.

Jetzt sind Sanktionen mit höchster wirtschaftlicher Wirksamkeit geboten. Das schließt neben bestimmten handelspolitischen Themen sicher auch den Verweis von den internationalen Finanzmärkten ein. Das schärfste Schwert wäre wohl der Ausschluss aus dem Zahlungsverkehrssystem Swift für Banken, Broker, Börsen undandere Finanzinstitute. Der Fall Iran, das 2012 erstmals von Swift ausgeschlossen wurde, lässt für Russland Böses ahnen: Erst kam der Zusammenbruch des Handels, dann folgte eine Versorgungskrise. Swift gehört in jedem Fall zum Sanktions-Instrumentenkasten, auch wenn ein Ausschluss Russlands Rückwirkungen auf andere Volkswirtschaften hätte. Der Effekt in Moskau dürfte aber ungleich schmerzhafter und mangels Alternativen nachhaltiger sein.

Klar ist aber auch: Europa muss zu einer verteidigungspolitischen Zusammenarbeit finden, und Deutschland muss seine entsprechende Zurückhaltung aufgeben. Man kann in dieser Welt ökonomisch letztlich nur erfolgreich sein, wenn man angemessen für seine Verteidigung sorgt. Auch in diesem Sinne müssen wir in Europa investieren.

Zum Gastbeitrag auf handelsblatt.com

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