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Michael Hüther in der Welt Gastbeitrag 16. Juli 2021

Müssen die Alterung so ernst nehmen wie den Klimawandel

Nur mit Wachstum lassen sich die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise abfedern. Sprudelnde Steuereinnahmen wie nach der Finanzkrise fallen diesmal weg. Daher müssen wir die Alterung so ernst nehmen wie den Klimawandel. Zwei europäische Länder zeigen, wie es gehen kann, schreibt IW-Direktor Michael Hüther in einem Gastbeitrag für die Welt.

Was ich klarstellen will:

Der politische Konsens, die deutsche Wirtschaft klimaneutral zu machen, ist eindrucksvoll und angemessen. Aus den Klimamodellen wird der heutige Handlungsbedarf abgeleitet. Die Dringlichkeit heutigen Handelns vermisse ich allerdings dort, wo es ebenso pressiert und ein Unterlassen die Dekarbonisierung sogar gefährden kann: bei der demografischen Alterung.

Warum ich das gerade jetzt sage:

Weil Politiker auf die Frage, wie die notwendigen Investitionen für den Strukturwandel unter der Restriktion der Schuldenbremse finanziert werden können und die Tilgung der Corona-Schulden dabei nicht zur Last wird, reflexartig auf die Früchte stärkeren Wachstums verweisen. Sprudelnde Steuereinnahmen wie in den Jahren seit 2011 sollen als Finanzierungswunder das Problem automatisch lösen. Doch dem stehen Alterung und Schrumpfung der Erwerbsbevölkerung entgegen.

Man kann das Wachstum (auf der volkswirtschaftlichen Entstehungsseite) über höhere Arbeitsproduktivität oder ein höheres Arbeitsvolumen steigern. Beim Produktivitätswachstum beobachten wir seit Längerem in allen Industrieländern einen Rückgang; die erhofften Effekte der Digitalisierung haben sich bisher nicht eingestellt und die internationale Technologiekonvergenz lässt keine Sonderentwicklung einzelner Volkswirtschaften erwarten. Für die Erwerbsbeteiligung und das Arbeitsvolumen gelten anders als in der zurückliegenden „goldenen Dekade“ nach der Finanzkrise in dem vor uns liegenden Jahrzehnt ungünstige Bedingungen:

Erstens reduziert sich alterungsbedingt die Anzahl der Erwerbspersonen im Alter von 20 bis 66 Jahren von 51,8 Millionen (2020) auf 48,6 Millionen im Jahr (2030), was einem Verlust von 4,5 Milliarden Arbeitsstunden entspricht. Zugrunde liegt die aktuelle Bevölkerungsprognose des Statistischen Bundesamts mit der Annahme jährlicher Nettozuwanderung von immerhin 220.000 Personen.

Zweitens sind die Beschäftigungspotenziale weitgehend ausgeschöpft, nachdem die Erwerbsbeteiligung der 20- bis 64-Jährigen von rund 68 Prozent im Jahr 2004 auf über 80 Prozent im Jahr 2019 angestiegen ist.

Drittens führt der oft als wichtige Kompensation benannte Abbau unfreiwilliger Teilzeit, die im Jahr 2019 in Deutschland knapp zehn Prozent aller Teilzeitbeschäftigten umfasst, nur zu einem begrenzten Zugewinn von 690 Millionen Arbeitsstunden.

Wenn Produktivität und Zuwanderung keine großen Hoffnungen begründen, bleibt zu fragen, ob die im Lande befindlichen Menschen mehr arbeiten können. Das lässt sich beispielhaft im Vergleich zur Schweiz und zu Schweden ermitteln, zwei in Deutschland durchaus akzeptierte Sozialmodelle.

Zum Gastbeitrag auf welt.de

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