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Michael Hüther / Matthias Diermeier / Henry Goecke in der Welt Gastbeitrag 8. Mai 2018

Krisen, Rückschritte, Brüche: „Die Globalisierung wirkt erschöpft”

Der Glaube daran, dass der freie Handel den Wohlstand der Welt vermehrt, schwindet. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs 1989/1990 ist die Globalisierung mit großer Hoffnung auf weltweite Wohlstandsmehrung und politische Modernisierung im Sinne offener, demokratischer Gesellschaften durchgestartet. Ein Gastbeitrag in der Welt zum neuen Buch von IW-Direktor Michael Hüther, Matthias Diermeier und Henry Goecke.

Heute wirkt sie erschöpft: Die Arbeitsteilung intensiviert sich nicht weiter, der Welthandel expandiert kaum stärker als die Weltproduktion, die Anzahl dynamischer Volkswirtschaften stagniert, viele Entwicklungsländer bleiben beharrlich weit zurück, viele Schwellenländer verharren im Stillstand, viele Industrieländer erleben angesichts persistenter Verteilungsfolgen eine Renaissance des Protektionismus.

Die Erschöpfung unserer - der "zweiten" - Globalisierung zu verstehen, verlangt zum einen die historische Einordnung im Lichte der "ersten Globalisierung" von 1870 bis 1914, denn nur aus den Errungenschaften dieser Phase weltwirtschaftlicher Öffnung und Integration sowie ihren Hinterlassenschaften aus Desintegration, Autarkie und Dekolonisation werden die Besonderheiten unserer Zeit verständlich. Zum anderen ist es notwendig, alle Wege der ökonomischen Globalisierung - Migration, Handel, Kapitalverkehr und Wissensvermittlung - gleichermaßen auszuleuchten. Sichtbar werden so die Gründe der Erschöpfung: der Mangel an adäquaten Institutionen in den Schwellen- und Entwicklungsländern, die Illusionen in den Industrieländern über den unentrinnbaren Automatismus kapitalistischer Effizienz, der Konflikt über Sinn, Verantwortung und Gestaltung multilateraler Institutionen.

Die erschöpfte Globalisierung ist vor allem Ausdruck eines unterschätzten normativen Konflikts zwischen dem transatlantischen Westen sowie seinen Ideen von 1789 (und wiederbelebt 1989) und der 1978 von Deng Xiaoping skizzierten Idee und dem Anspruch Chinas, auf Basis der Volksdiktatur und über ein anders wertemäßig fundiertes Modell die Weltwirtschaft zu gestalten. Letztlich prallen die westliche Konzeption unveräußerlicher Menschenrechte, Herrschaft des Rechts, Gewaltenteilung sowie Volkssouveränität und repräsentativer Demokratie auf die chinesische Dominanz der Staatsinteressen, ein autoritäres Einparteiensystem sowie den Vorrang der Partei- vor den Staatsinstitutionen. Nur unter Rückbindung an diesen normativen Konflikt wird es möglich sein, die Globalisierung - zumal angesichts der durch Klimawandel und Digitalisierung begründeten Herausforderungen - zukunftsfähig zu gestalten.

Die "erste Globalisierung" war geprägt durch die Ausreifung der Industrialisierung in Europa und im Osten der USA, durch die Etablierung gemeinsamer Institutionen - wie das Weltwährungssystem des Goldstandards - und die merkantilistische Nutzung von Kolonien für die Rohstoffversorgung, aber auch durch den Imperialismus als Versuch, den Nationalstaat unter den Bedingungen moderner Industrie jenseits des eigenen Territoriums machtpolitisch zu verankern. Das ganze 19. Jahrhundert lässt sich unter dem Rubrum der Beschleunigung fassen, die aus technischen Neuerungen und Aufholprozessen verspäteter Nationalstaaten im Wettbewerb mit vorangeschrittenen früh industrialisierten Staaten getrieben wurde.

Der Wachstumsboom des 19. Jahrhunderts insbesondere in Europa und in den Vereinigten Staaten war getrieben durch hohe Wanderungsraten, freien Zugang zum internationalen Kapitalmarkt und entsprechend hohen Kapitalzufluss sowie umfangreiche Rohstoffexporte, letztlich durch den Transfer von Technologien und Ideen. Dieser Zirkel wurde durch Migranten ausgelöst, die Europa im 19. Jahrhundert nach Übersee verließen und schon bald nie dagewesene Kapitalströme in ihre neue Heimat veranlassen sollten. Letztlich waren es diese Menschen, welche die "erste Globalisierung" in besonderer Weise geprägt und vorangetrieben haben, die Lehmans und die Siemens.

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Wie schon in der "ersten Globalisierung" so war in den vergangenen vier Jahrzehnten eine globale ökonomische Integration zu erleben, die sich selber nährte und damit an Dynamik gewann. Waren es zunächst die positiven Effekte sinkender Transport- und Handelskosten, so waren es dann die Grenzöffnungen und fast zeitgleich der Fortschritt in der Informations- und Kommunikationstechnologie, wodurch die Integration der Volkswirtschaften sich erhöhte. Dadurch nahm nicht nur die Komplexität der wirtschaftlichen Strukturen zu, sondern zugleich wurde es möglich, diese gestiegene Komplexität zu beherrschen. Nicht nur rückten die entferntesten Märkte zueinander, sondern es wurde eine vernetzte, voraussetzungsstarke sowie vielfältig abhängige Produktion in globalen Wertschöpfungsketten organisierbar. Die Steuerung in Echtzeit rund um den Globus beschert die fundamentale realwirtschaftliche Innovation: die Globalisierung der Wertschöpfungsketten. Das hat bedeutsame Voraussetzungen und ebenso beachtliche Wirkungen. Es bedarf verknüpfbarer Arbeitsorganisationen und Arbeitszeitregime, einzelbetriebliche Belange müssen in den globalen Zusammenhang integriert werden können, unterschiedliche Kulturen und Werthaltungen an den verschiedenen Standorten sind konstruktiv zu verbinden. Hieran wird deutlich, dass es sowohl um unternehmerische Voraussetzungen als auch um politisch-institutionelle Standards geht. Was einerseits als Bedingung notwendig ist, das entfaltet andererseits beachtliche Effekte an den verschiedenen Unternehmensstandorten und darüber für die weltweite Vernetzung.

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Vorabveröffentlichung aus: Die erschöpfte Globalisierung. Zwischen transatlantischer Orientierung und chinesischem Weg von Michael Hüther, Matthias Diermeier und Henry Goecke: Wiesbaden: Springer 2018.

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Konjunkturelle Robustheit und Ausreifung der "zweiten Globalisierung" erscheinen somit als zwei Seiten einer Medaille, deren Glanz allerdings dadurch verblasst, dass sich mit diesen Wirkungen eine zunehmende Erschöpfung dieser Globalisierung verbindet. Gemeint sind die Effizienzillusion aufseiten der Entwicklungsländer sowie die Sicherheitsillusion der entwickelten Industrieländer. Trotz der Liberalisierung der Kapitalmärkte und der zahlreichen Finanzinnovationen zum Handling von Risiken gilt der Befund, dass die "zweite Globalisierung" in dieser Hinsicht eine Rich-Rich-Affair ist - hier begründet sich die Effizienzillusion der Schwellen- und Entwicklungsländer. Und trotz der pazifizierenden Wirkung des Freihandels und der produktionsseitigen Vernetzung sowie Abhängigkeit erleben die Industriestaaten des Westens, dass die Erwartungen und Hoffnungen nach 1989 sich hinsichtlich der Sicherheit nicht bestätigt haben.

Der Gang durch die "erste und die zweite Globalisierung" erzählt eine Geschichte von Ambivalenzen, von Erfolgen und scheinbarer Unaufhaltsamkeit, aber ebenso von Krisen, Rückschritten und Brüchen. Die Erschöpfung der zweiten Globalisierung stellt Fragen, deren Beantwortung Perspektiven für eine tatsächlich inklusive - dritte - Globalisierung liefert.

Zum Gastbeitrag auf welt.de

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