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Michael Hüther / Matthias Diermeier in der Welt Gastbeitrag 15. September 2021

Demokratie in Gefahr

Digitalisierung und Globalisierung lassen die Gesellschaft zerfasern. Gewinner und Verlierer dieser Prozesse stehen sich so unversöhnlich gegenüber, dass der demokratische Diskurs kaum noch übergreifende Bindungswirkung entfalten kann, schreiben IW-Direktor Michael Hüther und IW-Ökonom Matthias Diermeier in einem Gastbeitrag für die Welt.

Moderne Demokratien in Großgesellschaften beruhen auf dem Grundsatz der Repräsentation. Die Souveränität des Volkes verschafft sich auf zwei Wegen Wirkung und Durchsetzung: einerseits über Wahlen und Partizipation in den demokratisch definierten Verfahren und Institutionen, andererseits über das zivilgesellschaftliche Reden und Handeln im öffentlichen Raum.

Auf Dauer kann eine demokratische Ordnung nur aus dem spannungsreichen Miteinander beider Wege erfolgreich sein. Die Offenheit und Reaktionsfähigkeit der Institutionen gehört dazu ebenso wie die Sensibilität und Dynamik der Zivilgesellschaft. Die Schwierigkeit besteht darin, dem Grundsatz folgen zu können, dass Gerechtigkeit durch geordnete, willkürfreie Verfahren gesichert werden muss. Denn nur dort kann gewährleistet werden, dass die Mehrheitsentscheidung Minderheitenrechte beachtet, zugleich aber keiner Dauerblockade unterliegt.

Mehrere Entwicklungen haben das ohnehin bestehende Spannungsverhältnis beider Wege zusätzlich unter Druck gesetzt. Da ist zunächst die steigende Komplexität der gesellschaftlich zu bewältigenden und politisch zu gestaltenden Themen, die immer stärker nach Expertenwissen und Kommissionen verlangt, die dem demokratischen Prozess nur vorgelagert sein können.

Colin Crouch hat dies als Phänomen der "Postdemokratie" systematisiert. Doch die von vielen wahrgenommene zunehmende Divergenz zwischen dem Handlungsdruck und den tatsächlichen Handlungen ruft offenkundig nach solchen Überholspuren demokratischer Langsamkeit. Die daraus mitunter abgeleitete Forderung, man solle doch nun einfach "der Wissenschaft" folgen, negiert die Pluralität wissenschaftlicher Standpunkte, insbesondere mit Blick auf die Instrumente, mit denen übergeordnete Ziele erreicht werden sollen. Zugleich würde die Entscheidungsfindung aus der politischen Arena heraus delegiert - eine Technokratisierung, die demokratietheoretisch problematisch erscheint.

Die dynamische Globalisierung der vergangenen drei Jahrzehnte hat in Tateinheit mit der Digitalisierung der zurückliegenden Dekade den Eindruck der verstärkten Fern- und Fremdbeeinflussung begründet. Dani Rodrik hat dies als "Globalisierungsparadox" erfasst, demnach offene Märkte und demokratische Souveränität jedenfalls nicht ungesteuert zueinanderpassen, sondern funktionale Defekte erfahren. Es werden Stimmen laut, die wie Wolfgang Streeck daraus den Gedanken einer Renationalisierung ableiten und der Abschottung das Wort reden. Es zeigt sich, dass die auch positiv zu beschreibende wechselseitige Beeinflussung von Demokratie und Marktwirtschaft sich ins Gegenteil verkehren kann.

Eigentlich - so hat es Carl Christian von Weizsäcker skizziert - vermögen sich Demokratie und Marktwirtschaft gerade aufgrund ihrer unterschiedlichen Funktionslogiken und komplementären Defizite positiv zu beeinflussen. Dieses Wechselspiel wendet sich ins Konstruktive, weil die Demokratie exogener Impulse durch Präferenzveränderungen bedarf, die Marktwirtschaft hingegen der stabilen sowie verlässlichen Rahmung für die faire Wirkung ihrer Impulse. Systemische Veränderungen, wie sie durch Globalisierung und Digitalisierung angetrieben werden und das Funktionieren demokratischer Öffentlichkeit und Repräsentation herausfordern, werden unterlegt von Entwicklungen, die der Identität des Einzelnen als maßgebliche Orientierung auch des Gesellschaftlichen Vorschub leisten. Francis Fukuyama hat die individuellen Identitätsansprüche erörtert, die sich in unserer Zeit durch Wohlstandsmehrung sowie Fortschritte bei der Gestaltung verlässlicher Daseinsvorsorge und damit individueller Steuerungskompetenz insbesondere durch die digitalen Netzwerke ergeben.

Allerdings erfordern die netzwerktechnischen Voraussetzungen gemeinschaftliche Lösungen durch Standards und gar eine supranationale Integration, was indes der Individualisierung entgegenwirkt. So hat der wirtschaftlich-technische Fortschritt Individualisierung und sozialraumspezifische Fragmentierungen begünstigt, obgleich dafür ein hohes Maß an Einsicht in die infrastrukturellen und damit gesellschaftlichen Vorleistungen erforderlich ist. Der dennoch zu erlebende Identitätsegoismus führt zu einer andersgearteten Konfliktlinie durch die Gesellschaft als bisher erlebt. Gegeneinander stehen Gruppen, die von der neuen Steuerungs- und Selbstermächtigungsoption unterschiedlich profitieren wollen beziehungsweise können oder betroffen sind.

Die von David Goodhart plakativ als "Somewheres" und "Anywheres" titulierten Gruppen stehen für unterschiedliche identitätspolitische Inhalte und Orientierungen: hier die Sorgen um die Fernbeeinflussung des eigenen Lebensstils und die Orientierung an kleinräumigen Gemeinschaften, dort die (scheinbar) unlimitierte Offenheit für das Fremde und Neue in klarer Ablehnung aller biedermeierlichen Rückwärtsgewandtheit.

Die medial und öffentlich als unbefragt dominant wahrgenommene Position der Polyglotten hat Protest und Ablehnung der engeren Bindungsgemeinschaften hervorgerufen. Das universelle Primat der eigenen Position und Perspektive wird auf beiden Seiten prononciert vorgetragen, sodass der demokratische Diskurs kaum übergreifende Bindungswirkung entfalten kann.

Die "Anywheres" verkennen die gesellschaftlichen Voraussetzungen ihrer Identitätsansprüche, die allein deshalb eingeordnet werden müssen. Mit ihrer vorteilhaften Mittelausstattung können sie den Strukturbrüchen unserer Zeit tatsächlich selbstversichert gegenübertreten. Die "Somewheres" hingegen ignorieren die Voraussetzungen des öffentlichen Raums mit der Begründung, dass es diesen für sie sowieso nicht mehr gebe.

Diese Konfliktlage ist deshalb so herausfordernd, weil vor allem diejenigen, die sich als faktisch benachteiligt und moralisch überrollt sehen, kaum erwarten, ihre Position in Zukunft - wie es der demokratischen Abfolge von Wahlen grundsätzlich entspräche - durchsetzen zu können. Zumal die medial unterlegte dominante Haltungsgruppe dies sich gar nicht vorstellen mag.

Spannend wird es dann, wenn antipluralistische Einstellungen über die politischen Ränder hinaus verbreitet sind und sich themenbezogen quer durch die Gesellschaft ziehen. Die Erwartung kann für Deutschland als Arbeitshypothese plausibel erscheinen, wenn man bedenkt, dass die Finanzkrise, die Staatsschuldenkrise, die Fluchtkrise, die Pandemie und die Klimakrise insbesondere zu Gegensätzen entlang moralisch kodierter und aufgeladener Programmatik geführt haben.

Wolfgang Merkel hat darauf hingewiesen, dass sich hier Gruppen darüber definieren und Zuspruch erfahren, dass sie ihre Forderungen kompromisslos moralisieren und mit dem Anspruch unterlegen, wissenschaftlich begründet und damit unangreifbar zu sein.

Der Verweis auf die Wissenschaft als jenen Bereich mit scheinbar eindeutigen Aussagen wird in der fundamentalen Krise des fossilen Zeitalters zum starken Argument für eine eigentlich andere Form des Regierens, nämlich das Durchregieren. Was dies für die verfassungsmäßigen Verfahren bedeutet, bleibt dabei ebenso häufig unbeachtet, wie die Folgen für den zivilgesellschaftlichen Diskurs.

In Rahmen eines von der Brost-Stiftung geförderten Projekts wurde 2020 eine Online-Befragung durchgeführt, deren Ergebnisse Antworten liefern, inwiefern antipluralistische Präferenzen in verschiedene Bevölkerungsschichten hineinreichen und inwieweit dies themenspezifisch mit einer Abkehr von den eingeübten demokratischen Prozeduren einhergeht. Der Befragungsfokus lag auf den Politikfeldern Corona, Zuwanderung, Klimawandel und soziale Ungleichheit. Im Kern steht die Frage, inwiefern Menschen ein Übergehen der üblichen parlamentarischen Prozesse bereit sind in Kauf zu nehmen, um den subjektiv empfundenen Handlungsbedarf zu befriedigen.

Den drängendsten Handlungsbedarf empfinden die Befragten bei der sozialen Ungleichheit. Drei Viertel der Deutschen nehmen die politischen Maßnahmen in diesem Handlungsfeld als unzureichend wahr. In der Klimaschutzfrage beläuft sich der Anteil auf 60 Prozent. Mit Blick auf die Begrenzung von Migration wünscht sich jeder Zweite mehr politisches Engagement. In drei wichtigen Politikfeldern wünscht sich damit eine Mehrheit der Bevölkerung eine engagiertere Politik. Besser schneidet lediglich die Pandemiebekämpfung ab, zu der im Spätsommer 2020 nur jeder Vierte angibt, vonseiten der Politik würde zu wenig getan.

Erstaunlicherweise übersetzt sich diese Hierarchie empfundener politischer Handlungsbedarfe nicht direkt in eine Ermüdung mit den politischen Verfahren. So wollen etwa mit Blick auf die gewünschte Verringerung der sozialen Ungleichheit lediglich 40 Prozent der Befragten ein Übergehen der parlamentarischen Prozesse in Kauf nehmen.

Damit stellt sich aber immerhin die Hälfte derjenigen, die in dieser Frage eine Unzufriedenheit mit der politischen Situation angeben, gegen die aktuellen parlamentarischen Prozesse. Möglicherweise wird hier die lange Tradition des Verhandelns verteilungspolitischer Positionen in Deutschland sichtbar, durch die sich die eingeübte Kompromissfindung tief in der politischen Kultur verankert hat. Lediglich unter den SPD-Anhängern findet sich eine Mehrheit, die soziale Ungleichheit auf Kosten der parlamentarischen Prozeduren bekämpfen möchte. Weitaus kritischer stellt sich die Lage in den Politikfeldern Klimaschutz, Zuwanderung sowie Pandemiebekämpfung dar. Von denjenigen, die hier einen Handlungsbedarf empfinden, geben rund drei von fünf Personen an, die Regierung solle weitreichende Maßnahmen ergreifen, auch wenn dadurch der übliche parlamentarische Prozess übergangen wird.

Es mag kaum überraschen, dass sich hier insbesondere AfD-Anhänger hervortun, von denen sich mit Blick auf die Zuwanderung fast 80 Prozent zur Verfahrensungeduld bekennen. Dieser Gruppe folgt hingegen die grundsätzlich demokratiezufriedene Anhängerschaft der Grünen, die in der Klimaschutzfrage mit einer breiten Mehrheit bereit wäre, das Übergehen parlamentarischer Prozeduren in Kauf zu nehmen.

Weitere Ergebnisse zeigen, wie autoritäre Einstellungsmuster über alle Themenfelder hinweg mit einer stärkeren Verfahrensmüdigkeit einhergehen. Die Überhöhung der eigenen Sichtweise speist sich aus der subjektiven Wahrnehmung der Problemlagen: Wer den CO2-Ausstoß in Deutschland während der vergangenen Jahre fälschlicherweise als gestiegen einordnet, kann die empfundene Trägheit in der Klimapolitik weniger gut aushalten.

Wer entgegen der tatsächlichen Entwicklung einen Anstieg bei der Kriminalität empfindet, sowie das Gefühl hat, das Bildungsniveau von Migranten würde in den Medien bewusst zu positiv dargestellt, tendiert eher zur Verfahrensungeduld mit Blick auf die Zuwanderung. Wer einen übermäßig negativen Blick auf den Arbeitsmarkt sowie die Ungleichheitsindikatorik mitbringt oder glaubt, Medien berichteten nicht über das wahre Ausmaß der sozialen Ungleichheit, um die Wirtschaft zu schützen, der möchte zudem die üblichen politischen Verfahren für dieses Politikfeld übergehen.

Der Befund deutet auf eine diffusere Lage hin, als die von Goodhart skizzierten gesellschaftspolitischen Frontstellungen vermuten lassen. Zum einen besteht in breiten Bevölkerungsschichten trotz der als dringlich empfundenen Handlungsbedarfe eine hohe Dialogbereitschaft. Zum anderen haben sich themenspezifische Silos von signifikanter Beharrlichkeit entwickelt, in denen die vermeintliche Prävalenz der eigenen Position Gefahr läuft, eine politische Virulenz zu entwickeln. In diesem Sinne lässt sich eher auf eine themenspezifischen Zerfaserung der Gesellschaft als auf eine bipolare Teilung schließen.

Innerhalb der Silos bietet selbst eine grundsätzliche Demokratiezufriedenheit kein Rezept, die demokratischen Zumutungen - die Auseinandersetzung mit dem anderen - ertragbar zu machen. Wo es mehr pluralen Austausch, mehr Akzeptanz gegenläufiger Positionen, mehr Wissen und Bildung benötigen würde, wird an dem Ast gesägt, der die Demokratie zusammenzuhalten versucht: dem ausgleichenden pluralistischen parlamentarischen Diskurs. Das Bedenkliche: Diese Konflikte gehen quer durch die gesellschaftliche Mitte.

Der Identitätsegoismus scheint sich über die Argumentationsmuster wissenschaftlicher Selbstlegitimierung in einer Weise verbreitet zu haben, dass die diskursive Offenheit nicht mehr die Oberhand gewinnt. Das Verständnis von Wissenschaft als letzter Wahrheit findet sich zunehmend dort, wo man meint, nicht weiter durchzudringen, nicht zuletzt, um andere Positionen zu diskreditieren. Es zählt die Haltung und nicht die Suche nach Erkenntnis im popperschen Sinne, der die Falsifizierung in den Mittelpunkt rückt und damit den Zweifel zum Prinzip erhebt.

Was kann getan werden? Neben dem Werben für die demokratischen Prozeduren mit deren Freiheit von Willkür könnte man Formate des Austauschs zwischen Parlament und Zivilgesellschaft testen, die ähnlich den Beteiligungsformaten bei Projekten einen geordneten Austausch jenseits der Fachanhörungen ermöglichen.

Ganz praktisch wäre auch zu prüfen, ob man nicht gezielt Forschungsgelder für die transparente Evaluierung jener Positionen bereitstellt, die ihren Protest in einer wissenschaftlichen Schattenwelt begründen. Diese Form ernsthafter Wahrnehmung könnte neue Ansätze für das nötige Gespräch und die erforderliche Kooperation schaffen. Denn die Neigung zur Immunisierung der eigenen Meinung im moralischen Gewand macht zwar wie gesehen vor Schichten mit höherer Bildung nicht Halt. Trotzdem lassen sich mit höheren Bildungsniveau und unverzerrter Perspektive auf die konkreten Problemlagen der Welt die langwierigen deliberativen Prozesse besser aushalten - selbst wenn die jeweilige Herausforderung als besonders dringlich empfunden wird.

Es zählt die Haltung, nicht die Suche nach Erkenntnis im poperschen Sinne.

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