1. Home
  2. Presse
  3. In den Medien
  4. Köpfe, Zeit, Produktivität
Zeige Bild in Lightbox Köpfe, Zeit, Produktivität
(© Foto: Vera Kuttelvaserova - Fotolia)
Michael Hüther im Handelsblatt Gastbeitrag 3. Mai 2013

Köpfe, Zeit, Produktivität

IW-Direktor Michael Hüther beschreibt im Handelsblatt, wie auch eine alternde Gesellschaft Wachstum produzieren kann.

Durch die Krisen der letzten Jahre ist ein wichtiger Befund nahezu untergegangen: Das Wachstumspotenzial der deutschen Volkswirtschaft hat sich von den 0,8 Prozent noch vor zehn Jahren fast verdoppelt, woran der tiefe Produktionseinbruch im Jahr 2009 nichts geändert hat. Just in diesen Jahren hat der demografische Wandel durch den Fachkräftemangel in wichtigen Berufsfeldern erstmals für jeden sichtbar Wirkungen entfaltet. Vor allem die Alterung der Bevölkerung ist evident: Der Anteil der Personen ab 65 Jahren erhöhte sich seit dem Jahr 2003 von knapp 19 auf über 21 Prozent, nur erreicht beziehungsweise übertroffen von Italien (21 Prozent), Japan und Monaco (jeweils 24 Prozent). Das Durchschnittsalter der Bevölkerung stieg zeitgleich von 41,4 auf 43,5 Jahre.

Die Bevölkerungsentwicklung ist naturbedingt relativ träge. Entscheidungen früherer Jahrzehnte mit der Folge einer gesunkenen Geburtenrate haben späte, dann aber nicht revidierbare Echoeffekte. So fehlen uns heute nicht nur Kinder, sondern bereits die dazu unzweifelhaft benötigten Mütter. Das Geburtenverhalten folgt sehr langlebigen Mustern; die Geburtenrate ist in kurzer Zeit zu Beginn der 1970er-Jahre auf das heutige Niveau von rund 1,4 Kindern je gebärfähiger Frau gesunken. Da auch die Zuwanderung den demografischen Trend nicht grundsätzlich wenden kann, dominieren Zweifel an der Wachstumsstärke alternder und schrumpfender Gesellschaften. Japan, aber auch Italien stehen dafür beispielhaft. Damit verglichen fällt Deutschland zumindest positiv auf.

Tatsächlich lässt die deutsche Entwicklung erkennen, wie alternde Gesellschaften einem sinkenden Lebensstandard entkommen können. Denn mit der Stärkung der gesamtwirtschaftlichen Dynamik verbanden sich deutliche Verbesserungen am Arbeitsmarkt. Dabei ist seit 2005 nicht nur die Erwerbstätigkeit eindrucksvoll angestiegen (um rund 2,6 Millionen auf über 41,6 Millionen Personen), sondern auch das Arbeitsvolumen, also die gesamtwirtschaftlich geleistete Arbeit in Stunden (um gut 2,3 Milliarden auf über 58 Milliarden Stunden), und das trotz einer infolge steigender Teilzeitquote rückläufigen Jahresarbeitszeit je Erwerbstägigen (um rund 34 Stunden). Die Arbeitsproduktivität je Stunde hat sich in diesem Zeitraum positiv entwickelt, wenn auch nicht so stark wie nach der Wiedervereinigung bis 2005. Will man verhindern, dass der demografische Wandel auf den Lebensstandard durchwirkt, so muss man an allen drei Stellschrauben drehen, kurzum: Köpfe, Zeit, Produktivität.

Beginnen wir mit der Kategorie "Köpfe", die auf die Erhöhung der Erwerbsbevölkerung zielt. Es muss, wenn auch erst langfristig wirksam, der Politik darum gehen, dass die Geburtenwünsche - relativ stabil bei etwa 1,7 je Frau liegend - bestmöglich realisiert werden können. Das hat viel mit der verlässlichen Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu tun, gerade mit Blick auf Hochqualifizierte. Die Unternehmen haben viel getan, indes besteht noch erheblicher Spielraum, beispielsweise indem trotz familienbedingter Auszeit Karrierewege offenbleiben.

Bedeutsam ist die Zeitsouveränität in der Phase der Familiengründung. Die im europäischen Vergleich hohen familienpolitischen Leistungen sind bezogen auf das Geburtenverhalten wenig erfolgreich, sie müssen stärker auf diesen Aspekt umgesteuert werden.

In den Kontext Erwerbsbevölkerung gehört auch eine gesteuerte Zuwanderung. Im Jahr 2011 erlebte Deutschland mit 279 000 Personen den höchsten Wanderungsüberschuss seit 1996, mit weiter steigender Tendenz, allein von Januar bis November 2012 lag der Überschuss bei 367 134 Personen. Jedenfalls scheint es so, dass die sehr niedrigen und teilweise negativen Wanderungssalden von 2004 bis 2009 der Vergangenheit angehören. Die seit dem Jahr 2000 zugewanderten Menschen sind besser mit technisch-naturwissenschaftlichen Kompetenzen ausgestattet als die heimische Bevölkerung. Die Nutzung dieser Fähigkeiten erfordert einen zügigen und transparenten Prozess der Anerkennung und der Arbeitserlaubnis. Dafür wurden die gesetzlichen Voraussetzungen deutlich verbessert.

In der Kategorie "Zeit" geht es darum, bei gegebener Bevölkerung durch Beeinflussung der Erwerbsquote sowie der Arbeitszeiten das gesamtwirtschaftliche Arbeitsvolumen zu steigern. Seit dem Jahr 2005 erhöhte sich die Anzahl der Erwerbstätigen um fast sieben Prozent, weil viel stärker als früher Menschen aus der stillen Reserve und Arbeitslose in Beschäftigung wechseln konnten. Dafür haben die durch die Arbeitsmarktreformen veränderten Anreize (Hartz I, II und IV), die effizientere Arbeitsvermittlung (Hartz III) und die beschäftigungsorientierte Lohnpolitik eine große Bedeutung. So konnte selbst die Anzahl erwerbsfähiger Leistungsempfänger von Arbeitslosengeld II um gut eine Million verringert werden.

Die für die Lebensarbeitszeit sehr wirksame Anhebung des gesetzlichen Rentenzugangsalters auf 67 Jahre (bis 2029) wird immer noch höchst streitig diskutiert, obgleich sich die Erwerbsquote der 60- bis 64-Jährigen seit dem Jahr 2000 von 21 auf über 47 Prozent erhöht hat. Im Jahre 2030 wird die Rente mit 67 dazu führen, dass im Vergleich zur Rente mit 65 rund 2,7 Millionen Personen mehr im Erwerbsalter sind. Eine weitere Anhebung des effektiven Rentenzugangsalters um ein Jahr bringt weitere 1,1 Millionen Erwerbspersonen mehr. Die weitere Anhebung des Rentenzugangsalters ist deshalb gut begründet. Die Lebensarbeitszeit wird auch durch einen beschleunigten Eintritt in das Erwerbsleben erhöht, die heute übliche frühere Einschulung und die verkürzte Gymnasialzeit (G8) sind in diesem Kontext relevant, haben aber wegen sinkender Jahrgangsstärken einen nur geringen Effekt.

Schließlich ist die Jahresarbeitszeit zu würdigen. Neben deren genereller Erhöhung - beispielsweise auf das Niveau der Schweiz - offeriert die hohe Teilzeitquote ein großes Potenzial für eine Erhöhung des Arbeitsvolumens. Fast die Hälfte der regulär teilzeitbeschäftigten Frauen würde ihre Arbeitszeit gerne ausweiten. Der Gesetzgeber sollte Fehlanreize abbauen, die sich beispielsweise aus dem Zusammenwirken von Mini- und Midi-Job-Regelungen mit anderen Anspruchsregelungen wie dem Arbeitslosengeld II ergeben. In den Unternehmen geht es um den Ausgleich von Beruf und Familie, in dem entsprechend flexible Arbeitszeitregelungen die Wünsche nach Zeitsouveränität der Beschäftigten ernst nehmen. Nicht zu unterschätzen ist das Angebot an verlässlicher Kinderbetreuung. Gerade Alleinerziehende haben deshalb häufig gar nicht die Chance auf eine Vollzeittätigkeit.

Die Kategorie "Produktivität" betrifft das individuelle Leistungsvermögen der Menschen im längeren (Erwerbs-)Leben. Bildungsinvestitionen und präventive Gesundheitsförderung im Lebensverlauf sind dafür die Schlüsselbegriffe: Zunächst hat der Staat eine Vorleistungsverpflichtung bei der Grundbildung, die Bildungsarmut verhindert und die Ausbildungsreife verbessert. Sodann ist er bei Gesundheit und Pflege für eine verlässliche Rahmengestaltung zuständig. Ergänzend aber können die Unternehmen durch Konzepte lebenszyklusorientierter Personalpolitik einen wichtigen Beitrag dafür leisten, dass die Leistungsfähigkeit im längeren Erwerbsleben erhalten bleibt. Im Verlauf des Erwerbslebens erweist sich besonders die Durchlässigkeit der Bildungsstufen als bedeutsam, um dem Einzelnen entsprechende Optionen zu eröffnen.

Investieren Politik, Unternehmen und Bürger in diesen drei Kontexten, dann lässt sich der erreichte Lebensstandard nicht nur sichern, sondern sogar erhöhen. Wachstumsschwäche ist für die alternde und schrumpfende Bevölkerung kein Schicksal, wenn über steigende Erwerbsintegration, Bildungsinvestitionen und Gesundheitsprävention schlüssig gehandelt wird.

Modellrechnungen zeigen, dass das Arbeitsvolumen bis zum Jahr 2030 trotz einer rückläufigen Erwerbsbevölkerung durch eine Kombination aus verlängerter Erwerbsphase, höheren Beschäftigungsraten und einer höheren Arbeitszeit pro Kopf gegenüber dem heutigen Niveau sogar noch steigen kann. Der demografische Trend könnte also in etwa kompensiert werden, der Produktivitätsfortschritt stünde so auch in Zeiten einer schrumpfenden und alternden Gesellschaft für wirtschaftliches Wachstum zur Verfügung.

Mehr zum Thema

Artikel lesen
Fällt die Batteriefabrik in Schleswig-Holstein aus? Vier von zehn Unternehmen wollen 2025 weniger investieren.
Michael Grömling / IW-Kooperationscluster Makroökonomie und Konjunktur Pressemitteilung 5. Dezember 2024

Konjunktur: Deutsche Wirtschaft wächst 2025 nur um 0,1 Prozent

Hohe Kosten, politische Unordnung und viele Unsicherheiten: Die deutsche Wirtschaft kommt 2025 nicht aus der Krise, zeigt die neue Konjunkturprognose des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW). Auch die Arbeitslosigkeit dürfte weiter steigen.

IW

Artikel lesen
IW-Kooperationscluster Makroökonomie und Konjunktur* IW-Report Nr. 45 5. Dezember 2024

IW-Konjunkturprognose Winter 2024: Es wird nicht besser

Die deutsche Wirtschaft kommt nicht vom Fleck. Die Stabilität im Dienstleistungssektor reicht gerade so aus, um die fortgesetzten Rückgänge im Industrie- und Baubereich zu kompensieren. Trotz der merklich angestiegenen Realeinkommen bleiben der private Konsum ...

IW

Mehr zum Thema

Inhaltselement mit der ID 8880