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(© Getty Images)
Michael Hüther in der Zeit Gastbeitrag 5. Mai 2022

Ist es falsch, wenn die Gewerkschaften jetzt höhere Löhne erkämpfen wollen?

„In einer Zeit, die von Unsicherheit, Lieferengpässen und wegbrechenden Märkten geprägt ist, können hohe Lohnforderungen kaum deplatzierter sein”, schreibt IW-Direktor Michael Hüther in einem Gastbeitrag für die Zeit.

Steigende Gehälter heizen die Inflation an

Den Lauten und vielen gebührt die Aufmerksamkeit, das ist hinlänglich bekannt. Wer nur hinreichend laut und lang anhaltend für seine Sache einsteht, findet immer Gehör, meist Verständnis und oft Sympathie. Nun ist es einmal so, dass es viele Arbeitnehmer und wenige Arbeitgeber gibt; dass viele Menschen Lebensmittel einkaufen und kaum jemand Rohstoffe, Maschinen und Energie in großen Mengen. Entsprechend vorsichtig sollten die immer lauter werdenden Rufe nach deutlich höheren Löhnen interpretiert werden - sie fokussieren auf nur eine Perspektive, nehmen aber nicht das große Bild in den Blick. In einer Zeit, die von Unsicherheit, Lieferengpässen und wegbrechenden Märkten geprägt ist, können hohe Lohnforderungen kaum deplatzierter sein.

Einige Gewerkschaften signalisieren dennoch, sich bei den anstehenden Tarifverhandlungen auf die derzeit partiell hohe Inflationsrate stützen zu wollen. Schon die Rhetorik ist irritierend, etwa wenn es heißt, dass »harte Tarifkonflikte« zu erwarten seien. Wer so droht, verkennt, dass die Teuerung beide Seiten - Arbeitgeber und Arbeitnehmer - trifft; dass nicht nur die Kosten im Supermarkt, sondern auch die Beschaffungspreise für Energie und Rohstoffe gestiegen sind. Viele Lieferketten sind gestört, teils unterbrochen - was Vorprodukte knapp und teuer macht. Solange der Krieg in der Ukraine wütet, sind Unternehmen gezwungen, unter enormer Unsicherheit über die weitere wirtschaftliche Entwicklung zu entscheiden. Unterlegt ist diese neue, verunsichernde Ungewissheit durch gravierende Transformationsprozesse - die Stichworte lauten: Digitalisierung, Dekarbonisierung, Deglobalisierung, Demografie. Hinsichtlich des letzten der vier »D« gilt: Der Fachkräftemangel sorgt bereits vielerorts für steigende Löhne.

Nicht unterschätzen darf man die Gefahr der Lohn-Preis-Spirale, die mitnichten nur Angstmacherei ist: Steigen die Löhne, steigen die Kosten auf Unternehmensseite, die der gute Kaufmann kompensieren muss, sofern er auch morgen noch wirtschaften möchte. Das wiederum treibt die Preise - auch dort, wo die derzeitigen Teuerungen jetzt schon besonders schmerzen.

Zugegeben: Für den Kassierer, für die Chemie-Facharbeiterin ist die Inflation mit Zumutungen verbunden. Der Kinobesuch wird teurer, mancher Urlaub vielleicht unerschwinglich. Man sollte nur niemandem falsche Versprechungen machen. Wer heute höhere Löhne bekommt, leidet womöglich bereits morgen unter einer noch höheren Inflation.

Dabei gibt es Lösungen, die in ungewissen Zeiten beiden Seiten helfen: Einmalzahlungen, auf die sich Arbeitgeber und Gewerkschaften einigen könnten, würden den inflationsbedingten Rückgang der Reallöhne auffangen - und eine dauerhafte, einseitige Belastung verhindern. Ein erfolgreich praktiziertes Beispiel ist die Tarifverhandlung in der Chemieindustrie, mit dem ersten großen Abschluss seit Kriegsbeginn in der Ukraine. Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertreter einigten sich auf eine Brückenlösung, in der Hoffnung, am Jahresende verlässlichere Rahmenbedingungen vorzufinden. Dieser Kompromiss sieht als Inflationsausgleich zunächst eine Einmalzahlung für die rund 580.000 Mitarbeiter vor, im Herbst wird über dauerhafte Lohnsteigerungen verhandelt. Dann stehen weitere wichtige Tarifrunden an, in der Metall- und Elektroindustrie sowie im öffentlichen Dienst von Bund und Kommunen. Flexibilität gewähren auch Besserungsklauseln, die sich verstetigen ließen, wenn die Entwicklung doch nicht so schlimm kommt wie befürchtet.

Um die Folgen der hohen Teuerungsrate abzufedern, ist auch der Staat in der Pflicht: Es ist richtig, dass er vor allem belastete private Haushalte mit der Energiepauschale und dem Kinderbonus stützt. So wird zugleich die Lohnpolitik entlastet. Ein erster Schritt ist damit gemacht. Politisch ist wichtig, dass jede Maßnahme zielgenau ist. Und: Inflationsbekämpfung ist Sache der Geldpolitik - die Lohnpolitik darf der Geldpolitik dabei nicht zusätzliche Hürden in den Weg legen. Angebracht ist also ein Miteinander der Akteure aus Politik, Notenbank, Gewerkschaften und Unternehmen, das wechselseitig die Bedingungen der anderen wahrnimmt. Laute, irrationale Forderungen dröhnen nicht nur in den Ohren, sondern drohen weitere wirtschaftliche Schäden zu verursachen.

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