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(© Foto: Copyright:schnittstelle berlin)
Michael Hüther in der Frankfurter Rundschau Gastbeitrag 14. Oktober 2014

Die Ungleichheit wird überschätzt

Deutschland ist egalitärer als der EU-Durchschnitt, schreibt IW-Direktor Michael Hüther in der Frankfurter Rundschau. Befragt man jedoch die deutsche Bevölkerung, zeigen sich stark verzerrte Verteilungsvorstellungen.

Ungleichheiten – sei es die Ungleichheit der Einkommen oder die Ungleichheit der Vermögensverteilung – als „zu hoch“ oder „angemessen“ anzusehen, bleibt letztlich eine Frage der normativen Bewertung durch die Bevölkerung und die politischen Entscheidungsträger. Aufgabe der Ökonomik und speziell der Verteilungsforschung kann es nur sein, die Höhe der Ungleichheit zu messen, einzuordnen, die Ursachen zu beleuchten und die Auswirkungen möglicher Maßnahmen zu erforschen.

Hinsichtlich Niveau und Entwicklung der Einkommensungleichheit sowie der relativen Einkommensarmut zeigen sich robuste Ergebnisse: Im Vergleich mit den Ländern der EU und der OECD ist Deutschland zwar kein Land mit einer ausgeprägt niedrigen Ungleichheit, erweist sich aber als etwas egalitärer als der EU- und der OECD-Durchschnitt. Einigkeit herrscht in der Wissenschaft auch darüber, dass die (Einkommens-)Mittelschicht die größte Gruppe der deutschen Bevölkerung stellt. Befragt man dagegen die deutsche Bevölkerung, zeigen sich stark verzerrte Verteilungsvorstellungen: Die Mehrheit in Deutschland, wie auch in vielen anderen europäischen Ländern, ist der Überzeugung, der Großteil der Bevölkerung gehöre zum unteren Bereich der Gesellschaft. Die Ungleichheit hierzulande wird somit deutlich überschätzt.

Ein ähnliches verzerrtes Bild ergibt sich bei der Entwicklung der Einkommensungleichheit und der Einkommensarmut. Tatsächlich haben sich die Armutsgefährdung und die Ungleichverteilung der Einkommen um die Jahrtausendwende etwas erhöht. Ziemlich genau seit 2005 ist die Armutsgefährdungsquote aber stabil, und die Einkommen haben sich, wenn man überhaupt eine Veränderung feststellen kann, wieder etwas angenähert. Die Trendwende fällt mit dem Zeitpunkt der Einführung der Agenda 2010 und speziell der Hartz-IV-Reformen zusammen.

Letztere werden in der Öffentlichkeit aber überwiegend als sozial ungerecht und korrekturbedürftig dargestellt – tatsächlich haben sie den Anstieg von Einkommensarmut, für den die Agenda verantwortlich sein soll, aber überhaupt nicht gegeben.

Ist die wissenschaftliche Analyse der Einkommensverteilung bereits weitgehend standardisiert, steckt die Betrachtung der Vermögensungleichheit nahezu in den Kinderschuhen. Bereits die Veröffentlichung des aktuellen Armuts- und Reichtumsberichts im Jahr 2013 hat eine Debatte um die ungleiche Vermögensverteilung entfacht. Unumstritten, die Vermögen sind ungleich verteilt – aber auch hier gilt: Zwischen 2002 und 2012 hat die Konzentration der Vermögen entgegen aller Vermutungen nicht zugenommen. International lässt sich die Höhe der Vermögensungleichheit ohne Einordnung in den spezifischen Länderkontext kaum vergleichen: Zwar ist im Vergleich der Euroländer die Vermögensungleichheit hierzulande recht hoch. Ein wesentlicher Erklärungsfaktor für die hohe Vermögensungleichheit ist jedoch die in Deutschland geringe Wohneigentumsquote.

International zeigt sich: Je seltener die Menschen in den eigenen vier Wänden leben, desto größer fällt die Ungleichheit der Vermögen aus. Anders als in vielen anderen Ländern verfügt Deutschland aber über einen funktionierenden Mietwohnungsmarkt, so dass die Bildung von Wohneigentum nicht zwingend erforderlich ist, um gut wohnen zu können. Da hierzulande bonitätsschwache Haushalte eben kein kreditfinanziertes Wohneigentum haben, sind diese vergleichsweise gut durch die Finanzkrise gekommen.

Zur Höhe der staatlichen Umverteilung gilt: In kaum einem anderen der ebenfalls gut ausgestalten EU-Wohlfahrtsstaaten wird so viel umverteilt wie in Deutschland. Zwar führt das Steuer- und Transfersystem in seiner Gesamtheit zu einer klaren Umverteilung von oben nach unten, dennoch mangelt es gerade den kürzlich neu eingeführten Transfers und Instrumenten an Zielgenauigkeit: Betreuungsgeld, Mütterrente und der Mindestlohn setzen nicht am Bedürftigkeitsprinzip an. Das Betreuungsgeld setzt eindeutig Fehlanreize. Denn gerade eine qualifizierte frühkindliche Betreuung kann helfen, Sprachprobleme von Kindern zu beseitigen und die Chancengleichheit bei Schuleintritt zu erhöhen. Darauf sind vor allem Kinder aus bildungsfernen Schichten angewiesen – das Betreuungsgeld verringert jedoch die Wahrscheinlichkeit, dass ihnen diese Förderung zu Teil wird. Der Mindestlohn ist als Instrument gegen Einkommensarmut wenig treffsicher. Denn die Erwerbstätigen mit einem Stundenlohn von weniger als 8,50 Euro haben gegenüber dem Durchschnitt der Bevölkerung nur ein leicht erhöhtes Risiko von Einkommensarmut. Gerade in Branchen und Regionen mit eher niedrigem Lohnniveau kann der Mindestlohn aber zu Beschäftigungsverlusten führen und somit die sozialen Unterschiede noch vergrößern.

Unbestritten sinnvoll sind dagegen Maßnahmen, die dazu befähigen, aus eigener Kraft ein auskömmliches Einkommen zu erzielen, da sie gleichzeitig das Wachstumspotenzial erhöhen, und sich von daher auch als staatliche Investition rechnen. Mehr Chancengerechtigkeit würde auch die Akzeptanz von Ungleichheiten in der Bevölkerung erhöhen. Denn ein weiterer Blick auf die Wahrnehmung zeigt, dass Einkommensunterschiede durchaus akzeptiert werden, wenn sie auf Leistungen und nicht auf glückliche Umstände wie beispielsweise ein gut situiertes Elternhaus zurückgehen.

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