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Michael Hüther in Die Politische Meinung Gastbeitrag 28. Juli 2022

Teuerung auf breiter Front: Das Risiko der Stagflation in der Eurozone

Seit Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine hat in Deutschland und in der Eurozone die Konsumentenpreisinflation historische Höhen erklommen. Diese Entwicklung gründete auf einen bereits seit dem Jahresanfang 2021 zu beobachtenden Prozess der Reflationierung, der nach einer längeren Phase sehr geringer Steigerung der Inflation durchaus überraschend einsetzte und zunächst vor allem durch die global infolge der Pandemiepolitik gestörten Lieferketten von den Erzeugerpreisen ausging.

Ab Mai 2021 lag der deutsche Verbraucherpreisindex über zwei Prozent, im Juli – durch den zusätzlichen Anstieg der Energiepreise – bei 3,8 Prozent und im Dezember bei 5,3 Prozent. Der leichte Rückgang im Januar 2022 auf 4,9 Prozent war nicht von Dauer; verursacht durch die politisch bedingten Reaktionen auf den Weltenergiemärkten, wurden im April 7,4 Prozent erreicht. Gut die Hälfte des Anstiegs ging, wie bereits in den Vormonaten, auf die Preise für Energie zurück.

Die Beschreibung dieser Situation trägt bereits eine besondere politische Herausforderung in sich. Denn es handelt sich in der Eurozone – anders als in den USA – nicht um eine Inflation, die durch eine überschäumende Nachfrage in einer Boomphase zustande kam, sondern um angebotsseitige Störungen und Kostensteigerungen. Wir sprechen daher passenderweise von Teuerung, während Inflation letztlich immer ein monetäres Phänomen ist. Das bedeutet indes nicht, dass die Geldpolitik von der Aufgabe befreit ist, zeitlich und sachlich angemessen zu reagieren. Doch die genannten Teuerungseffekte entziehen sich der Kontrolle und der Verantwortung der Notenbank; anders sieht dies bei den Immobilienpreisen (Mieten) aus, die durch die Geldpolitik mitgetrieben sind und rund ein Fünftel des Warenkorbes befüllen. Ein zu frühes Handeln – wie es im vergangenen Jahr bei transitorisch erscheinender Inflation der Fall gewesen wäre – kann erhebliche rezessive Wirkungen entfalten, ein zu spätes Handeln – wie es nun angesichts des Zögerns der Europäischen Zentralbank (EZB) droht – läuft Gefahr, die Risiken einer Überwälzung in die Binnenwirtschaft zu unterschätzen.

Geldpolitisches Dilemma

In Zeiten massiver Teuerung muss die Notenbank darauf achten, dass die aufgeblähten Zentralbankbilanzen nicht dazu führen, eine – technisch jederzeit mögliche – Umsteuerung auf eine restriktive Geldpolitik an ihrer politischen Durchsetzbarkeit scheitern zu lassen. Die hohe Liquidität war in der Vergangenheit kein Problem, da sich der Euroraum in einem Schuldenabbau befand. Angesichts der für Transformation und Zeitenwende notwendigen Investitionen und Staatsausgaben können die günstigen Finanzierungsbedingungen nun inflationär wirken, zumal die Investitionen in die Transformation den Realzins ansteigen lassen und allein dadurch die Geldpolitik expansiv wird. Die kommunikative Umsteuerung seitens der EZB in den Monaten seit Kriegsbeginn kann man als vorsichtiges Freischwimmen aus diesem Dilemma begreifen.

Druck erfährt die europäische Geldpolitik dadurch, dass sich die US-Notenbank Federal Reserve (Fed ) bereits in einem Zinserhöhungszyklus befindet und so der Inflationsdruck in der Eurozone über Wechselkurs sowie Importpreise erhöht wird. Seit dem Beginn des Krieges ist der Wechselkurs von 1,12 US-Dollar für einen Euro bis zum Zinsschritt der Fed am 4. Mai 2022 auf 1,05 US-Dollar gesunken. Die Zinserhöhung um fünfzig Basispunkte in einer Spanne zwischen 0,75 Prozent bis ein Prozent war die stärkste Anhebung seit 22 Jahren; lediglich die im ersten Quartal schwächelnde US-Konjunktur hat die Fed von einem – von den Märkten durchaus erwarteten – noch drastischeren Schritt abgehalten. Bereits Ende Januar 2022 hatte die Fed bestätigt, dass sie in diesem Jahr die Zinsen auf bis zu drei Prozent erhöhen und die aufgeblähte Bilanz durch verringerte Markttransaktionen reduzieren will.

Konflikte zwischen Lohn- und Finanzpolitik

Die Lage in den Vereinigten Staaten ist allerdings nicht mit der in der Eurozone zu vergleichen. Bereits vor Pandemieausbruch im Frühjahr 2020 lag das geldpolitische Zinsniveau mit 1,75 Prozent deutlich über dem der EZB; das heißt, die Ausgangssituation für das geldpolitische Krisenhandeln war unterschiedlich. Das gilt – wie angedeutet – auch für den gegenwärtigen Antrieb der Inflation.

Die Gesamtinflation lag in den USA im April 2022 mit 8,5 Prozent zwar nur gut einen Prozentpunkt höher als in der Eurozone, allerdings war die Kerninflationsrate (ohne Energie und Nahrung) mit über sechs Prozent fast doppelt so hoch. Insofern musste die Fed schneller und kräftiger reagieren. Die EZB wird im Jahr 2022 so weit gehen, die Negativzinsphase zu beenden und damit zu einer wirksamen Restriktionsandrohung zu kommen.

Die Teuerung stellt jedoch nicht nur Fragen an die Geldpolitik, sondern ebenso an die anderen makroökonomischen Akteure: die Lohnpolitik und die Finanzpolitik. Denn anders als in der „goldenen Dekade“ von der Finanzkrise bis zur Pandemie, deren stetiger Beschäftigungsaufbau keine Konfliktsituation zwischen (deutscher) Lohnpolitik und (europäischer) Geldpolitik begründete, ist nunmehr das Konfliktpotenzial angesichts der hohen Teuerungsraten unverkennbar. Das erinnert an die 1970er-Jahre, als die erste Ölpreiskrise 1973 ähnliche Teuerungs- und Inflationsfolgen hatte, sodass die Bundesbank sich seinerzeit genötigt sah, mit einem restriktiven Kurs die Volkswirtschaft in eine Stabilisierungskrise zu führen (Bruno/Sachs, 1985).

Seinerzeit waren die Gewerkschaften aufgrund des Organisationsgrades verteilungspolitisch wirkungsmächtiger als heute; dafür prägt jetzt der Fachkräftemangel den Arbeitsmarkt und begründet knappheitsbedingten Lohndruck. Dabei hatten sich die Lohnstückkosten (je Erwerbstätigenstunde) in Deutschland bereits seit den frühen 1970er-Jahren dynamisch entwickelt, und zwar im Durchschnitt der Jahre 1970 bis 1974 um fast acht Prozent. In den Jahren seit der Finanzkrise lag der jahresdurchschnittliche Anstieg bei gut 1,9 Prozent (2011 bis 2021). Die hohen Inflationsraten der 1970er-Jahre waren nicht nur vom epochalen Einschnitt der Ölkrise geprägt, sondern ebenso von der Inflationsgewöhnung seit den 1960er-Jahren und einem geringeren Stabilitätsinteresse der Politik.

Der Rückblick auf die 1970er-Jahre ermahnt die Makropolitik, die Zuordnung der Verantwortungsbereiche ernst zu nehmen (Hüther, 2018). Dazu gehört, dass die Lohnpolitik ihre Stabilisierungsverantwortung mit Blick auf das Preisniveau annimmt und sich kontinuierlich an der Preisnorm der EZB orientiert. Das wird ihr erleichtert, wenn die Finanzpolitik verteilungspolitisch angemessen die Kaufkraftverluste der einkommensschwachen Haushalte abfedert und für die einkommensstärkeren Haushalte eine Überforderung durch die kalte Progression vermeidet. Zudem sollte der Staat verlässlich die Infrastruktur entwickeln, um damit das Wachstumspotenzial der Volkswirtschaft zu stärken.

Stagflationsrisiken

Doch auch wenn das gelingt, bleibt unabhängig von den kurzfristigen Folgen des Ukraine-Krieges die Frage, wie groß das Risiko einer Stagflation – eine Kombination von höherer Inflation und schwächerem Wachstum – ist. Dafür sprechen in der Tat eine Reihe von Faktoren. Einerseits droht aus den aktuellen Preissteigerungen, nicht zuletzt bei traditionell eher weniger volatilen Preisen, eine Gewöhnung an eine trendmäßig höhere Inflation; jedenfalls eine oberhalb der Inflationsnorm der EZB von zwei Prozent, und eine damit durch die Wahrnehmung der Marktakteure veränderte Lage für die Notenbank. Unterstützend für diese Neujustierung der Inflationserwartungen wirken verschiedene Faktoren (Demary/Hüther, 2022; Demary et al., 2022).

Andererseits begründen die Dekarbonisierung von Produktion und Konsum wie auch die demografische Alterung ein veritables Stagflationsrisiko. Alterung schwächt die Produktivität und kostet Wachstum, gleichzeitig aber hat sich damit die strukturelle Arbeitslosigkeit, die sich vor 45 Jahren erstmals und dann für lange Zeit bildete, weitgehend vermindert. Der Fachkräftemangel manifestiert sich zunehmend als volkswirtschaftliches und nicht mehr nur als branchen- respektive qualifikationsspezifisches Phänomen – er verschärft über Lohnprämien den Inflationsdruck.

Der CO2-Preis wird in den kommenden Jahren beschleunigt ansteigen, verzögert wird die Menge an CO2-Emissionen planmäßig abnehmen; inwieweit sich das gesamtwirtschaftlich niederschlägt, hängt auch von den Kollateraleffekten entlang der Wertschöpfungskette ab. Der Umbau zur Klimaneutralität erfordert – nicht zuletzt wegen der Versäumnisse früherer Jahre – massive Preissignale, um die gewünschten Anpassungen auszulösen. Mit fortschreitender Anpassung verlieren die Preiseffekte gesamtwirtschaftlich an Bedeutung, allerdings dürfte das für einen Zeitraum von fünf bis zehn Jahren noch nicht der Fall sein. In dieser Zeit kann eine Schwächung des Wachstums nur vermieden werden, wenn – anders als während der Automatisation in den 1970er-Jahren – die Unternehmen sich nicht im vielfältigen Strukturwandel (digitale Transformation) überfordert sehen und auf stabile Rahmenbedingungen setzen können.

Die in den letzten Jahren zu beobachtende Desintegration in der Weltwirtschaft durch Protektionismus, durch Neuordnung der Lieferketten infolge eines Reshoring, aber auch durch steigende Kosten für Cybersecurity lässt erwarten, dass anders als in den Jahrzehnten seit 1990 die Globalisierung vorerst nicht mehr über günstige Importpreise und unternehmensinterne Verrechnungspreise Entlastung bei der Inflation gewährt. So bleibt als Hoffnungswert die Digitalisierung, die sich bisher zwar noch nicht in der Produktivitätsstatistik niederschlägt, durch sinkende Such-, Informations-, Durchsetzungs- und Kontrollkosten für private Transaktionen die Inflation jedoch gedämpft hat.

Die Geldpolitik steht nicht nur kurzfristig angesichts der Teuerungseffekte, sondern auch mittelfristig angesichts der Stagflationsrisiken vor einem Dilemma. Jede Veränderung des geldpolitischen Kurses greift angesichts des lange und robust gefahrenen Expansionskurses über die aktuelle Konstellation weit hinaus. Die Abkehr von einer solchen Geldpolitik ist angesichts der bei Wachstum und Inflation versteckten Risiken sowie ohnehin komplexeren Rahmenbedingungen nicht so straff und zügig zu vollziehen wie in den 1970er-Jahren.

Die Phase geldpolitischer Negativ- und Niedrigzinsen sowie expansiver Anleihekaufprogramme sollte aber in jedem Fall zu Ende gehen; die Argumente dafür bestehen nicht mehr, die Banken können wegen ihrer höheren Eigenkapitalquoten die Unternehmen mit Krediten versorgen. Damit muss die Finanzpolitik wachstumspolitisch umgehen, trotz der infolge von Pandemie und Ukraine-Krieg steigenden Schuldenstände. Damit der makroökonomische Konflikt konstruktiv gewendet werden kann, müssen Finanzpolitik, Geldpolitik und Lohnpolitik ihre Stabilisierungsverantwortung neu finden.

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