Seit langem diskutiert Deutschland über mehr Bürgerbeteiligung. Jetzt gibt es einen Bürgerdialog zum "guten Leben". Doch er garantiert keine echte Mitsprache, schreibt Knut Bergmann, Leiter des IW-Hauptstadtbüros, in der Neuen Zürcher Zeitung.
Was schlecht ist am guten Leben
"Politik trifft auf Bürger", "Im Gespräch mit dem Volk", "Dem Bürger auf der Spur" – so lauteten einige Schlagzeilen, als die Bundesregierung im Frühjahr ihren Bürgerdialog "Gut Leben in Deutschland" startete. Damit war der Sinn der Reihe zum Thema Lebensqualität, bestehend aus insgesamt fast 200 Veranstaltungen, an denen häufig Kabinettsmitglieder teilnehmen, treffend beschrieben. Denn wie Angela Merkel bei einem der Dialoge offenherzig bekannte, ist man sich nicht ganz sicher, was die Bürger wirklich für wichtig hielten. Das könnte nun einmal etwas anderes sein, als von Parteien in Programme und Koalitionsvereinbarungen hingeschrieben werde.
Partizipatives Placebo?
Die meist höflichen Fragestunden mit einem Publikum, das dem Eindruck nach sonst eher in Akademien politischer Bildungseinrichtungen anzutreffen ist, dürften tatsächlich widerspiegeln, worum es den Menschen geht: Arbeit, Gesundheit, Umwelt, Flüchtlingspolitik, das gute Miteinander werden angesprochen.
Das überrascht nicht, zumal sich in der vergangenen Wahlperiode eigens eine Enquête-Kommission des Parlaments dem Zusammenhang von Wohlstand, Wachstum und Lebensqualität widmete. Damals wie heute lautet die Frage, was daraus folgt. Den Vorwurf, mehr ein partizipatives Placebo initiiert zu haben, denn echte Mitsprache zu garantieren, wird die Regierung verschmerzen. Er wurde schon bei früheren Versuchen, von höchster Seite mit den Bürgern ins Gespräch zu kommen, erhoben.
Das vom Bundespräsidenten betriebene "Bürgerforum 2011" blieb ohne jede Folge, während vom "Zukunftsdialog der Bundeskanzlerin" immerhin der Vorschlag, Cannabis zu legalisieren, gegenwärtig ist; ein Beispiel dafür, dass in solchen Verfahren vor allem Mobilisierungsfähigkeit belohnt wird – in diesem Fall war es die gut organisierte Hanf-Lobby.
Auch NGOs sind Lobbyisten
Zumeist wird jedwedes Engagement zivilgesellschaftlicher Gruppen gutgeheißen, ihre Forderungen werden im Diskurs wohlwollend behandelt. Das "Verbunden werden auch die Schwachen mächtig" aus "Wilhelm Tell" taugt nicht allein als Teil des eidgenössischen Gründungsmythos. Vergleichbar reklamieren es hierzulande viele NGO für sich. Manchmal scheint es, als würden sie von einer Art Heiligenschein umflort, sie wollen ja nur das Gute und Gerechte, die Moral ist stets auf ihrer Seite.
Doch auch sie sind Lobbyisten – ein sonst negativ konnotierter Begriff, zumindest wenn es um die Interessen von Unternehmen geht. In der Schweiz hingegen können sich die Anliegen zivilgesellschaftlicher Organisationen in Volksinitiativen Bahn brechen. Ob das Verfahren in allen Fällen zur Versachlichung beiträgt, sei dahingestellt.
Wieso Partizipationsrechte nur einer kleinen Gruppe nützen
Gerade in der deutschen Zivilgesellschaft wird der Ausbau von Beteiligungsrechten als Mittel gegen Politikverdrossenheit gesehen. Allerdings gilt europaweit, dass allgemeine Wahlen das verlässlichste Instrument sind, eine sozial bloß gering verzerrte politische Teilhabe zu gewährleisten. Denn alle Formen von Engagement weisen eine Schieflage auf, es werden überwiegend Menschen mit höherer Bildung und besserem Einkommen tätig. Insbesondere unkonventionelle Beteiligungsformen werden von sozial Schwachen vergleichsweise selten genutzt. Dasselbe gilt für Partizipation via Internet, die vornehmlich Jüngere mit höherem Bildungsgrad anspricht. Eigentlich wären dies gute Gründe, die repräsentative Demokratie in ihrer vermittelnden Funktion zu stärken.
Die Unwucht dürften ähnlich die Bürgerdialoge aufweisen, mit denen überdies ein implizites Misstrauensvotum an die Mitglieder des Deutschen Bundestags verbunden ist. Offenbar traut die Bundesregierung, obwohl überwiegend selbst aus Wahlkreisabgeordneten bestehend, ihren Kollegen vor Ort nicht zu, Volkes Stimme nach Berlin zu transportieren. Faktisch stieß die Bundeskanzlerin mit der eingangs erwähnten Aussage ins Horn der Kritiker, die "die Politik" – zumal auf nationaler Ebene – als abgehobene Klasse sehen. Tatsächlich haben umso weniger Deutsche den Eindruck, über Einflussmöglichkeiten zu verfügen, je höher die Ebene ist – laut Umfragen glaubt dies für die Bundespolitik gerade einmal die Hälfte, für die europäische Ebene lediglich ein Viertel der Bürger.
Moralische Argumente
Dass allerdings obrigkeitsstaatlich anmutende Verfahren wie der Bürgerdialog daran etwas ändern können, ist zu bezweifeln. Vielmehr droht zusätzliche Enttäuschung, weil ohne Not Erwartungen geweckt werden, wofür die Politik, und im Speziellen die Bundesregierung, noch zuständig sein soll. Ob sie das wirklich immer ist, zumal im komplizierten Föderalismus, steht auf einem anderen Blatt. Welche Ergebnisse am Ende überhaupt umgesetzt werden können, bleibt noch offen; geplant sind ein Indikatoren- und Berichtssystem zur Lebensqualität und ein ressortübergreifender Aktionsplan. Spöttisch sei vermerkt, dass die aus den Dialogen abzuleitende anekdotische Evidenzbasierung in jedem Fall argumentativ weiterhilft.
Das Wörtchen "gut" zeigt dabei die Richtung an. Mag das "gut leben" noch abstrakt daherkommen, ist die Vorstellung von "guter Arbeit", wie sie von der Linken massiv propagiert wird, schon viel konkreter. Ob sie dazu beiträgt, Arbeitsplätze zu schaffen und zu sichern – mithin eine der wichtigen Quellen eines glücklichen Lebens –, ist jedoch fraglich. Das Narrativ vom politischen "gut", das in Deutschland leider viel zu oft mit "klar geregelt" übersetzt wird, öffnet weiterer Regulierung Tür und Tor. Bedauerlicherweise wird in unserer eigentlich freiheitlichen Gesellschaft immer mehr immer detaillierter geregelt. Solche Debatten waren und sind in hohem Maß geprägt von moralischen Argumenten. Die sind dem "gut" immanent. Dem öffentlichen Diskurs ist es jedoch abträglich, wenn angenommene moralische Überlegenheit mehr zählt als sachliche Gründe. Das alles ist kein gutes Omen für das gute Leben.
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