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Knut Bergmann in der Neuen Zürcher Zeitung Gastbeitrag 18. Dezember 2012

In der Talkshow siegt die Empörung über die Fakten

Viele politische Diskussionen bleiben so oberflächlich wie selbstbezüglich und werden mit den immergleichen Argumenten geführt, schreibt der Leiter des IW-Hauptstadtbüros, Knut Bergmann, in der Neuen Zürcher Zeitung. Der Berliner "politisch-mediale Komplex" ist eine ganz eigene Welt, die manchmal nur wenig mit der Lebenswirklichkeit der "Leute da draussen" zu tun hat.

Wenn nicht ständig über ein Thema geredet werde, dann scheine es gelöst zu sein, bemerkte Bundeskanzlerin Angela Merkel kürzlich in einem Vortrag, in dem es – o Wunder – um die Krise der europäischen Gemeinschaftswährung ging. Als Chefin einer Regierung, in der an Streitthemen wahrlich kein Mangel herrscht, und als Vorsitzende einer Partei, deren vermeintliche Diskursunfähigkeit gelegentlich beklagt wird, ist das einleuchtend. Um Themen anzugehen, die über Legislaturperioden hinausreichen, ist eine solche Kultur jedoch nicht zweckmässig. Viele Diskussionen bleiben so oberflächlich wie selbstbezüglich und werden mit den immergleichen Argumenten geführt, wobei sich jeder fein in seinem Silo einrichten kann. Der Berliner "politisch-mediale Komplex" ist eine ganz eigene Welt, die manchmal nur wenig mit der Lebenswirklichkeit der "Leute da draussen" zu tun hat. Und so viel die Kanzlerin auch in Brüssel und andernorts verhandelt, die öffentliche Debatte verbleibt primär national, obwohl – oder: gerade weil – die Welt grösser und komplexer geworden ist.

Dabei sind die Herausforderungen für die meisten europäischen Länder ähnlich: Sie müssen den Wandel ihrer Bevölkerungsstruktur bewältigen – und das im globalen Wettbewerb. Dahinter steht die Aufgabe, den Wohlstand zu sichern, von dem nicht zuletzt die sozialen Sicherungssysteme abhängig sind. Doch woher der Wohlstand kommt, wird oft vergessen. Vor einiger Zeit initiierte die deutsche Kanzlerin einen Dialog über Deutschlands Zukunft, in dem Experten und Bürger unter anderem über die Frage, wie und wovon wir künftig leben wollen, diskutierten. Danach zeigte sich Merkel davon beeindruckt, auf welch hohem Niveau erörtert wurde, ob und, wenn ja, welches Wachstum anzustreben sei. Dann aber fügte sie hinzu, dass sie allerdings viel mehr das Problem umtreibe, wie sich sicherstellen lasse, dass in zehn Jahren in Deutschland überhaupt noch Automobile gebaut würden und die chemische Industrie produzieren könne.

Führen wir also die richtigen Debatten? Auf dem weiten Feld der Sozialpolitik wohl eher nicht. Armut wird immer nur als finanzielles Problem diskutiert, und wenn zu wenig Mittel in Staates Kasse sind, dann kann das nur an zu geringen Einnahmen und darf niemals an zu hohen Ausgaben liegen. Letztlich ist das sogar konsequent, weil der politische Wirkmechanismus nun einmal das Geld ist. Trotzdem liegt der Vergleich mit dem Handwerker nahe, der als Werkzeug nur über einen Hammer verfügt und für den folglich jedes Problem ein Nagel sein muss – wobei die Gefahr besteht, dass so lange auf ihn eingeschlagen wird, bis die ganze Wand zusammenbricht. Hinzu kommt die Dominanz des Einzelfalls. Wer den Renteneintritt mit 67 Jahren verteidigt, dem wird ständig der Dachdecker vorgehalten, der eben keinesfalls so lange arbeiten kann. Geradezu verpönt ist es, zu argumentieren, dass der vielkritisierte Aufwuchs atypischer Beschäftigung nicht zulasten der Normalarbeitsverhältnisse gegangen sei, sondern sich die Beschäftigungsquote insgesamt erhöht habe. Auch die vielbeschworene Generation Praktikum hat es nie gegeben. Dem skandalösen Einzelfall, den im Übrigen niemand will, ist – zumal unter den Bedingungen des Talkshow-Diskurses – kaum beizukommen. Empörung sticht Fakten, die anekdotische Empirie siegt. Ordnungspolitische Einwände sind fast nicht vermittelbar, und grundlegendes Nachdenken über unser Menschenbild verbietet sich ausserhalb von speziellen Diskussionen um Themen wie die Organspende oder die Präimplantationsdiagnostik von vornherein.

Insgesamt ist der öffentliche Diskurs in Deutschland stärker von Risiken denn Chancen geprägt. Das gilt sogar für erfolgreiche Projekte. Die Reformpolitik Schröders, eine wesentliche Ursache für die wirtschaftliche Stärke des Landes, wird in dessen eigener Partei nachgerade verfemt. Auch wenn den Deutschen bewusst ist, dass ihr Land deutlich besser dasteht als fast alle europäischen Staaten, sind sie nach wie vor sehr sicherheitsorientiert. Nicht einmal jeder Dritte glaubt laut Umfragen, dass die Unsicherheiten vor einigen Jahrzehnten ähnlich gross waren wie heutzutage. Sicherlich, das Land ist einem steten Wandel unterworfen. Doch laut Untersuchungen neigen Menschen dazu, systematisch sowohl ihre eigene Anpassungsfähigkeit zu unterschätzen wie negative Auswirkungen von Reformen auf sie persönlich zu überschätzen. Neben einem Zuwachs an Sicherheit werden mehr Solidarität und weniger Materialismus gewünscht, wobei die Neigung, selbst Verzicht zu üben, sehr viel geringer ausgeprägt ist. Damit einher geht ein Hang zum Paternalismus, obwohl das Vertrauen in staatliche Institutionen und deren handelnde Personen schwindet. Das könnte jedoch weniger dem tatsächlichen Versagen der Politik als manch unrealistischer Erwartung geschuldet sein. Zumindest steht die – durchaus von Politikern geförderte – Anspruchshaltung der Bürger hinsichtlich dessen, worum sich «die Politik» kümmern soll, im Widerspruch zu dem beständig sinkenden Vertrauen in die Problemlösungskompetenz der politischen Institutionen. Dieser Vertrauensverlust wird bis hin zu einer tiefgreifenden Krise der Demokratie interpretiert.

So geht manch sehnsuchtsvoller Blick in die Schweiz, das Land der institutionalisierten grossen Koalition (konstant der Deutschen liebste Konstellation), wo Streitfragen mittels Referenden entschieden werden. Doch weil das eidgenössische System so wenig übertragbar ist, wie der Schweizerfranken in der Bundesrepublik eingeführt werden kann, hilft vielleicht der kleine intellektuelle Grenzverkehr weiter: Von Max Frisch stammt das schöne Bonmot, dass Krise durchaus ein produktiver Zustand sein könne, man ihr nur den Beigeschmack der Katastrophe nehmen müsse.

Zum Artikel in der Neuen Zürcher Zeitung

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