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(© Foto: Gettyimages)
Jürgen Matthes auf Focus Online Gastbeitrag 20. November 2020

EU-Wiederaufbaufonds: Wie die EU die Blockade von Ungarn und Polen umgehen kann

Endlich ist im Grundsatz beschlossen, dass EU-Gelder bei Verletzungen von bestimmten europäischen Grundwerten gestrichen werden können. Doch Ungarn und Polen stellen sich quer. Die anderen EU-Staaten sollten das Corona-Hilfspaket in einem zwischenstaatlichen Vertrag ermöglichen und so den beiden Außenseitern die Vetomöglichkeit nehmen, schreibt IW-Ökonom Jürgen Matthes in einem Gastbeitrag bei Focus Online.

Die EU hat als Reaktion auf die Corona-Krise (zusätzlich zum EU-Haushalt von knapp 1,1 Billionen Euro für die Jahre 2021 bis 2027) ein umfangreiches Aufbaupaket in Höhe von 750 Milliarden Euro aufgestellt mit der Bezeichnung Next Generation EU (NGEU). Hiervon sind 390 Milliarden Euro als zusätzliche nicht rückzahlbare Finanzhilfen zugesagt, für deren Finanzierung sich die EU erstmals in großem Umfang langfristig bis 2058 verschulden will. Das Gros der NGEU-Mittel entfällt mit 672,5 Milliarden Euro auf die sogenannte Aufbau- und Resilienzfazilität. Hierin enthalten ist das Gros der avisierten Finanzhilfen von 312,5 Milliarden Euro.

Keine Kompromisse beim Rechtsstaatlichkeitsmechanismus

Mit den Beschlüssen zum großen Paket von 1,8 Billionen Euro soll erstmals auch ein Rechtsstaatsmechanismus eingeführt werden, mit dem EU-Gelder bei Verstößen gegen bestimmte demokratische Grundwerte und Standards gekürzt werden können. Vor allem in Ungarn und Polen gab und gibt es solche Verstöße, zum Beispiel gegen die Unabhängigkeit der Justiz und die Gewaltenteilung. Die Europäische Kommission hatte in ihren ursprünglichen Vorschlägen für den MFR vorgeschlagen, dass sie im Fall der Fälle die Empfehlung für einen Sanktionsbeschluss vorlegt, den die EU-Staaten im Rat dann nur mit qualifizierter Mehrheit hätten ablehnen können. Den Widerstand Polens und Ungarns antizipierend hatte die deutsche EU-Ratspräsidentschaft den Kommissionsvorschlag im Rat der EU-Staaten aufgeweicht. Demnach ist eine qualifizierte Mehrheit für (und nicht gegen) einen Sanktionsbeschluss nötig, was eine deutlich höhere Hürde darstellt. Zudem wurden Rechtsstaatlichkeitsverstöße darauf beschränkt, dass sie die korrekte Verwendung von EU-Geldern direkt beeinträchtigen. Auf dieser Basis hatten Ungarn und Polen ihre grundsätzliche Zustimmung zum Gesamtpaket signalisiert.

In den weiteren Verhandlungen in Brüssel verweigerte das Europäische Parlament seine Zustimmung zum Gesamtpaket, wenn der Rechtsstaatlichkeitsmechanismus nicht gestärkt wird. Daraufhin wurde zwar die Abstimmungsregel nicht geändert, wie es wünschenswert gewesen wäre. Aber immerhin wurde der enge Bezug von Rechtsstaatlichkeits-Verstößen mit Bezug auf die Verwendung der EU-Gelder etwas erweitert, wenngleich mit etwas schwammigen Formulierungen. Auch soll der Rechtsstaatsmechanismus nun präventiv gelten, also zum Beispiel schon bei einer Gefährdung der Unabhängigkeit der Gerichte.

Für diese Form des Rechtstaatlichkeitsmechanismus fand sich am 16. November die nötige qualifizierte Mehrheit im Rat der EU-Staaten, wobei die Gegenstimmen von Ungarn und Polen dies wegen nicht verhindern konnten, weil keine Einstimmigkeit galt. Beide legten aus Protest in einer separaten Abstimmung über das Gesamtpaket, bei dem Einstimmigkeit nötig ist, aber ihr Veto ein. Damit blockieren sie die rechtzeitige Auszahlung vor allem der Aufbau- und Resilienzfazilität, obwohl darin auch für diese beiden Staaten erhebliche Gelder vorgesehen sind. Sie nehmen einen zentralen Teil des Corona-Hilfspakets der EU quasi in Geiselhaft, obwohl es vor allem in Südeuropa dringend gebraucht wird.

Die übrigen EU-Staaten sollten sich von dieser Form der Erpressung nicht beeindrucken lassen und keine falschen Kompromisse machen. Vielmehr sollten sie wie beim Euro-Rettungsschirm einen zwischenstaatlichen (intergouvernementalen) Vertrag außerhalb der EU-Verträge anstreben und das Corona-Hilfspaket auf diesem alternativen Weg ermöglichen. Dabei sollten die Zahlungen für Ungarn und Polen gestrichen werden. Mit diesem Ansatz einer Koalition der Willigen wäre ein Veto der beiden Außenseiter nicht möglich. Ein Nachteil ist natürlich, dass ein zwischenstaatlicher Vertrag etwas Zeit kosten dürfte. Aber möglicherweise müssen die übrigen EU-Staaten diesen Weg nicht zu Ende gehen, weil Ungarn und Polen vorzeitig einlenken, stehen doch für Ungarn fast 8 Milliarden Euro und für das deutlich größere Polen sogar fast 28 Milliarden Euro auf dem Spiel.

Ein solcher Schritt eskaliert den Konflikt zwar weiter. Aber das Klima ist durch die Blockadehaltung der beiden Staaten ohnehin schon vergiftet. Es darf nicht sein, dass dort europäische Grundwerte ohne nennenswerte Konsequenzen verletzt werden. Die Berufung beider Länder auf die nationale Souveränität muss dahinter zurückstehen. Andernfalls verrät die EU ihre elementaren Prinzipien.

Gros der Hilfsgelder aus der Aufbau- und Resilienzfazilität fließt erst nach 2023

Im EU-Jargon handelt es sich bei den Finanzhilfen im Aufbau- und Resilienzfonds um sogenannte rechtliche Verpflichtungen für die Jahre 2021 bis Ende 2023. Die aus diesen Verpflichtungen möglichen Zahlungen sollen aber bis Ende 2026 erfolgen. Damit stellt sich die Frage, wie sehr die Zahlungen zeitnah zur Bekämpfung der Corona-Krise dienen sollen. Eine genauere Betrachtung zeigt, dass das Ziel der Finanzhilfen kaum die direkte Krisenbekämpfung ist, sondern in erster Linie die mittelfristige Stärkung der EU für die Herausforderungen der Zukunft. Das erscheint gerechtfertigt. Denn gerade die besonders von der Corona-Pandemie betroffenen Staaten könnten ohne diese Hilfen zu geschwächt aus der Krise hervorgehen, um diesen Herausforderungen gewachsen zu sein.

  • Ein erstes Indiz für die eher strukturelle Mittelfrist-Orientierung sind die Kriterien für die Aufteilung der rechtlichen Verpflichtungen. Die Kommission sieht zwar vor, dass von den 312,5 Milliarden Euro an Finanzhilfen 70 Prozent (218,75 Milliarden Euro) in den Jahren 2021 bis 2022 eingeplant sind. Doch die damit verbundenen Hilfen sollen sich nicht an den Krisenfolgen, sondern vor allem an den strukturellen Problemen der EU-Länder auf dem Arbeitsmarkt orientieren. Sie werden vor allem bemessen an der Höhe der Arbeitslosenquote zwischen 2015 und 2019, also den Jahren vor der Corona-Krise.
  • Zudem ist nicht klar, wie auf Basis der Verpflichtungen bis 2023 die Zahlungen bis 2026 zeitlich verteilt werden sollen, weil es darüber an Transparenz durch die Europäische Kommission mangelt. Auf Basis der verfügbaren Informationen hat Zsolt Darvas vom Think Tank Bruegel geschätzt, wie sich die Zahlungen über die Jahre 2021 bis 2026 verteilen dürften. Dabei zeigt sich: Im Jahr 2021 werden wohl noch nicht einmal 10 Prozent der Finanzhilfen ausgezahlt und im Jahr 2022 kommen demnach lediglich noch einmal schätzungsweise 13 Prozent hinzu. Damit dürfte nach dem vermutlichen Höhepunkt der Krise in diesem Jahr in den beiden Folgejahren vermutlich gerade einmal rund ein Fünftel der Finanzhilfen fließen. Die aktuelle Blockade von EU-Haushalt (genauer dem Mehrjährigen Finanzrahmen (MFR) für 2021 bis 2027) und Aufbaupaket durch Ungarn und Polen könnte zu weiteren Verzögerungen führen.
  • Auch scheint der Bedarf der EU-Staaten für direkte krisenbezogene Hilfen begrenzt zu sein. Zwar haben 17 EU-Staaten zinsgünstige EU-Kredite im Rahmen des SURE-Programms für die Unterstützung von Kurzarbeitsprogrammen in Höhe von zusammen über 90 Milliarden Euro beantragt. Aber zinsgünstige Darlehen des Euro-Rettungsfonds ESM in Höhe von insgesamt 240 Milliarden Euro im Rahmen einer neuen Pandemie-Hilfskreditlinie für krisenbezogene Aufgaben besonders im Gesundheitswesen blieben bislang unangetastet, obwohl der ESM auf umfassende Reformauflagen verzichten würde. Offenbar konnten die EU-Staaten ihre zusätzlichen Ausgaben durch eigene Kreditaufnahme am Finanzmarkt zu hinreichend niedrigen Zinsen finanzieren. Dies allein ist schon ein großer Erfolg der kombinierten EU-Hilfen, deren Glaubwürdigkeit den Finanzmärkten Vertrauen eingeflößt und so die Zinsen niedrig gehalten hat.

Drohende Aufweichungen der Bedingungen des Aufbaupakets

Wenn mit den kombinierten über 1,8 Billionen Euro des NGEU-Aufbaupakets und des MFR offensichtlich weniger konjunkturelle, sondern vor allem strukturelle Ziele zur Stärkung der EU für die zukünftigen Herausforderungen verfolgt werden sollen, ist entscheidend, wie die Mittel verwendet werden. Sie sollten mittelfristig Wachstum, Beschäftigung und Wettbewerbsfähigkeit der EU-Staaten stärken. Doch deutet einiges darauf hin, dass dieses Ziel nicht optimal erreicht oder gar verfehlt werden mag und wichtige Chancen vergeben werden könnten.

Der MFR sieht weiterhin vor, dass Agrarsubventionen der größte Ausgabeposten bleiben. Dagegen wurden die Mittel für Forschung und Entwicklung gegenüber den ursprünglichen Vorschlägen der Europäischen Kommission sogar noch verringert. Im NGEU-Aufbaupaket sind zwar rund 20 Prozent der Mittel für Digitales vorgesehen. Doch ein noch größerer Anteil soll in den Klimaschutz fließen. Teils fließen davon auch Mittel in die Landwirtschaft. Zudem ist fraglich, wie weit die Klimaschutzhilfen wirklich wachstumsfördernd eingesetzt werden.

Der Europäische Parlament hat vorgeschlagen, die Vergabebedingungen für die Aufbau- und Resilienzfazilität in fragwürdiger Weise aufzuweichen. Der Rat hatte vorgegeben, dass als Kriterien für die Vergabe der Mittel (neben den Krisenfolgen, dem Klimaschutz und Digitalem) auch die Erhöhung von Wachstumspotenzial und Beschäftigung relevant sein sollen. Dazu sollen auch die Vorgaben im Rahmen des Europäischen Semesters dienen, das durch die Verbindung mit der Mittelvergabe gestärkt werden kann. Zudem sind nach Vorstellungen des Rates auch fiskalische Aspekte zu berücksichtigen. Die Staaten dürfen demnach gemäß dem Stabilitäts- und Wachstumspakt nicht zugleich ein übermäßiges Fiskaldefizit aufweisen und keine effektiven Gegenmaßnahmen ergriffen haben. Bei Verstößen gegen diese Vorgabe können Mittel gekürzt werden. Weil die Auszahlungen aus dem Fonds daran gebunden sind, kann so der Anreiz erhöht werden, die europäischen Fiskalregeln einzuhalten. Zwar ist der Pakt derzeit krisenbedingt ausgesetzt, aber das darf nur vorübergehend der Fall sein, jedenfalls nicht während der gesamten Auszahlungsphase bis 2026.Das Europäische Parlament hat demgegenüber vorgeschlagen, auf fiskalische Bedingungen ganz zu verzichten, da der Pakt ja ohnehin ausgesetzt sei.

Zudem soll die Mittelvergabe nach der Vorstellung des Parlaments nur an der Bekämpfung der Krisenfolgen orientiert werden, wobei darunter auch Ausgaben für Klimaschutz, Digitales, soziale Kohäsion und Industriestrategie gefasst. Damit wäre nicht ausreichend gesichert, dass Investitionen und Reformen auf die Steigerung von Wachstum, Beschäftigung und Wettbewerbsfähigkeit entfallen. Zudem scheint das Parlaments die enge Verbindung zu den diesbezüglichen Reformvorgaben des Europäischen Semesters aufweichen zu wollen. Damit würde die Chance vergeben, das Semester nachhaltig zu stärken.

Zum Gastbeitrag auf focus.de

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