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Hagen Lesch in der Süddeutschen Zeitung Gastbeitrag 14. Dezember 2015

Das Paradox des Mindestlohns

Zu einem Stundenlohn von 8,50 Euro werden viele Flüchtlinge keine Stelle finden, schreibt IW-Ökonom Hagen Lesch in der Süddeutschen Zeitung. Dennoch sei es vorerst nicht sinnvoll, die Lohnuntergrenze abzusenken. Denn der Mindestlohn enthält eine wichtige Botschaft für die Geflüchteten: Sie müssen sich qualifizieren.

Allein in diesem Jahr werden mehr als eine Million Flüchtlinge zu uns kommen. Diese massive Migrationswelle wird den deutschen Arbeitsmarkt vor große Herausforderungen stellen. Neben sprachlichen Hürden ist die zentrale Frage die nach der fachlichen Qualifikation: In welchem Umfang und in welchen Bereichen kann es gelingen, die Flüchtlinge in Beschäftigung zu bringen? Bislang liegt zwar noch keine belastbare Statistik zu den Kompetenzprofilen vor, aber mindestens zwei Drittel der Flüchtlinge dürften über keine abgeschlossene Berufsausbildung verfügen. Es muss daher nicht nur ein ökonomisches, sondern auch ein gesellschaftspolitisches Ziel sein, möglichst viele zu qualifizieren und in den Arbeitsmarkt zu integrieren.

Zur Bewältigung dieser Aufgabe werden verschiedene Rezepte diskutiert. Ein erster, und für die meisten Ökonomen auch naheliegender Vorschlag besteht darin, diesen Arbeitskräftezustrom durch eine generelle Senkung des gesetzlichen Mindestlohns abzufedern. Dies lehnen nicht nur die Gewerkschaften ab, sondern auch die Arbeitgeberverbände. Sie führen vor allem politische Gründe dafür an. Flüchtlinge sollen keine Arbeitskräfte zweiter Klasse sein, und sie sollen auch nicht einheimische Arbeitskräfte durch Lohnunterbietung aus dem Arbeitsmarkt drängen. Das würde die politischen Ressentiments in Teilen der Bevölkerung schüren.

Neben diesem politischen gibt es aber auch ein ökonomisches Argument, das vorerst gegen eine generelle Senkung des gesetzlichen Mindestlohns spricht. Deutschland braucht mehr Fachkräfte und keinen rasanten Anstieg der Zahl von Arbeitnehmern ohne Berufsausbildung. Schon vor der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns zu Jahresbeginn ist die Zahl der Langzeitarbeitslosen in Deutschland kaum noch gesunken. Und es ist unklar, wie stark das Angebot an einfachen Arbeitsplätzen ausgeweitet werden kann. Ein Grund hierfür: Bei Einfacharbeit gelten häufig tarifliche Branchenmindestlöhne (etwa in der Zeitarbeit, im Sicherheitsgewerbe oder in der Gebäudereinigung). Unterhalb dieses Niveaus dürfen schlicht keine Arbeitsplätze angeboten werden. Je weniger aber die Arbeitsnachfrage im untersten Arbeitsmarktsegment auf Lohnänderungen reagieren kann, desto weniger führt eine Senkung des Mindestlohns zu nennenswert mehr Beschäftigung.

Für die Arbeitsmarktpolitik muss es daher oberste Priorität haben zu vermeiden, dass die Zahl von Anbietern einfacher Arbeit beträchtlich steigt. Der Zustrom junger, arbeitswilliger Flüchtlinge bietet die Chance, den erwarteten Fachkräftemangel der Zukunft zu lindern. Dazu ist es aber notwendig, nach der schulischen Bildung auch möglichst vielen den Weg in eine duale Berufsausbildung zu ebnen. Die Qualifikation der Flüchtlinge ist die zentrale arbeitsmarktpolitische Aufgabe der nächsten Jahre. Wenn sie in die Ausbildungssysteme gelenkt werden, strömen sie nicht auf den Arbeitsmarkt, insbesondere nicht in den Niedriglohnsektor. Allerdings erhöht ein hoher Mindestlohn den Anreiz, auf Ausbildung zu verzichten.

Aber: Zu einem Stundenlohn von 8,50 Euro werden viele Flüchtlinge keine Stelle finden. Und hier könnte der gesetzliche Mindestlohn als Markteintrittsschranke eine positive Seite entfalten. Er verhindert, dass Flüchtlinge auf eine Berufsausbildung verzichten und stattdessen einfache Arbeiten für fünf oder sechs Euro je Stunde verrichten. So paradox es klingt: Der Mindestlohn übernimmt in diesem Fall eine Steuerungsfunktion, um Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt auszutarieren. Er steigert den Anreiz, zu lernen und sich zu qualifizieren. Um diesen Anreiz weiter zu erhöhen, ist aber auch ein Bleiberecht für Menschen mit abgeschlossener Berufsausbildung notwendig. Außerdem sollte die Vorrangprüfung ausgesetzt werden. Diese sieht während der ersten 15 Monate eines Aufenthalts in Deutschland vor, dass zunächst geschaut werden muss, ob sich für eine Stelle ein Bewerber mit deutschem oder EU-Pass finden lässt.

Flüchtlinge, die schon jetzt über eine angemessene Berufsausbildung verfügen, sollten, wenn sie ausreichend Sprachkenntnissen haben, zügig in den deutschen Arbeitsmarkt integriert werden. Sie würden in Arbeitsmarktsegmenten arbeiten, in denen die Löhne über der gesetzlichen Lohnuntergrenze liegen und in denen eine ausreichende Nachfrage nach Arbeitskräften besteht.

Hierbei könnten die schon jetzt genutzten Betriebspraktika für Flüchtlinge eine wichtige Brückenfunktion übernehmen. Ein Praktikum erhöht die Transparenz über Kenntnisse und Fähigkeiten der Arbeitssuchenden. Auf diese Weise ebnet ein Praktikum den Weg in die Arbeitswelt direkt und nicht erst über das duale Ausbildungssystem. Es ist ein effektiver Test der Beschäftigungsfähigkeit und bietet damit die Chance, die Einstiegshürde drastisch zu senken. Dies wirft die Frage auf, ob eine dreimonatige Freistellung vom gesetzlichen Mindestlohn, wie sie das Mindestlohngesetz derzeit vorsieht, ausreicht. Der Gesetzgeber sollte nicht davor zurückschrecken, das Mindestlohngesetz zu ändern und die Freistellungsfrist anzupassen. Diesen Punkt sollte auch die Mindestlohnkommission prüfen, wenn sie - wie im Mindestlohngesetz vorgesehen - im nächsten Frühjahr über eine Anpassung des gesetzlichen Mindestlohns entscheidet. Aus Sicht der Arbeitgeber besteht in diesem Punkt unabhängig von der Flüchtlingsdiskussion Anpassungsbedarf.

Diese Überlegungen schließen eine Neubewertung der Mindestlohnfrage nach einer umfassenden arbeitsmarktpolitischen Bestandsaufnahme nicht aus. Sollte es uns nicht gelingen, möglichst viele Flüchtlinge so zu qualifizieren, dass sie die Fachkräftelücken auf dem deutschen Arbeitsmarkt füllen können, stellt sich die Frage nach einer Anpassung der gesetzlichen Lohnuntergrenze neu. Untersuchungen zeigen, dass Zuwanderer aus den nicht westlichen Herkunftsregionen schon in der jüngsten Vergangenheit häufiger von Arbeitslosigkeit betroffen waren. Sollte die Arbeitslosigkeit stark zunehmen, muss darüber diskutiert werden, ob das Verharren in Arbeitslosigkeit Sinn hat oder ob es nicht besser ist, zu einem geringeren Lohn in den Arbeitsmarkt einzusteigen. In diesem Zusammenhang ist es wenig vorausschauend, schon jetzt eine Erhöhung des Mindestlohns auf zehn Euro je Stunde zu fordern.

Es sei aber nochmals daran erinnert: Aufgrund des begrenzten Angebots an einfachen Arbeitsplätzen sollten auch keine allzu großen Erwartungen an eine Senkung des Mindestlohns geknüpft werden. An Qualifikation führt letztlich kein Weg vorbei.

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