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Derya Cevik / Simon Gerards Iglesias IW-Kurzbericht Nr. 99 14. Dezember 2022 Abschottung ist keine Option: Autokratien gewinnen an politischer und wirtschaftlicher Bedeutung

Der Vormarsch der Autokratien weltweit nimmt zu. Ob Bevölkerungsentwicklung, Wirtschaftsleistung oder CO2-Emissionen: die Anteile von autokratisch regierten Ländern stiegen in den vergangenen zwanzig Jahren kontinuierlich an.

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Autokratien gewinnen an politischer und wirtschaftlicher Bedeutung
Derya Cevik / Simon Gerards Iglesias IW-Kurzbericht Nr. 99 14. Dezember 2022

Abschottung ist keine Option: Autokratien gewinnen an politischer und wirtschaftlicher Bedeutung

Institut der deutschen Wirtschaft (IW) Institut der deutschen Wirtschaft (IW)

Der Vormarsch der Autokratien weltweit nimmt zu. Ob Bevölkerungsentwicklung, Wirtschaftsleistung oder CO2-Emissionen: die Anteile von autokratisch regierten Ländern stiegen in den vergangenen zwanzig Jahren kontinuierlich an.

Heute entfällt mehr als ein Viertel der weltweiten Wirtschaftsleistung auf harte Autokratien, deutlich mehr als ein Drittel der Weltbevölkerung lebt in autokratisch regierten Ländern und für fast die Hälfte aller CO2-Emissionen sind allein Autokratien verantwortlich. Eine wertegeleitete europäische Außenpolitik stellt Kooperationen mit Autokratien zunehmend in Frage, was aber nicht dazu führen darf, dass es keine Zusammenarbeit mehr gibt.

In Zeiten zunehmender geopolitischer Konflikte und Krisen stellt sich in der politischen Debatte immer häufiger die Frage, ob der bisherige deutsche Ansatz der internationalen Wirtschaftsbeziehungen noch zeitgemäß ist. Der brutale Angriffskrieg auf einen souveränen europäischen Staat hat die Geopolitik wieder in den Vordergrund gerückt, was Auswirkungen auf die Handelsbeziehungen haben wird. Russland ist einem beispiellosen Decoupling der westlichen Allianz ausgesetzt, es verliert wohl unwiederbringlich seinen wichtigsten Absatzmarkt und für längere Zeiten auch einen bedeutenden Importmarkt (Gerards Iglesias/Hüther, 2022).

Es sollen Lehren aus Russland gezogen werden, um die Wirtschaft resilienter gegenüber geopolitischen Konflikten zu machen. Folglich plädiert eine Mehrheit der Ökonomen in einer Umfrage für eine Einschränkung der Handelsbeziehungen mit Autokratien (Baur et al., 2022) und unternehmerische Strategien zielen vermehrt auf die Verkürzung oder Regionalisierung von Lieferketten, weil global organisierte Wertschöpfungsketten anfällig gegenüber exogenen Schocks sind (Mariotti, 2022).

Auch die Beziehungen zu China, einem immer unberechenbareren Regime, das sich nach innen wie nach außen spürbar radikalisiert, werden hinterfragt. Der britische Premierminister Rishi Sunak brachte es in einer außenpolitischen Grundsatzrede auf den Punkt: China sei eine Herausforderung für britische (und genauso europäische) Werte und Interessen; die „goldene Ära“ mit China, jahrzehntelang geprägt von intensiveren Wirtschaftsbeziehungen, sei endgültig vorbei. Die Angst vor China als neue Hegemonialmacht besorgt die europäischen Regierungen zunehmend, weil ökonomische Abhängigkeiten politisches Erpressungspotenzial bedeuten können. Daher geht es beim Paradigmenwechsel in den Wirtschaftsbeziehungen nicht nur um ein stärkeres europäisches Sendungsbewusstsein von Werten, die global durchgesetzt werden sollen, sondern vielmehr um eine Strategie zu mehr Resilienz gegenüber der Gefahr von politischer Erpressung. Der Fall Russland dient hier als Blaupause. Als Lösungen werden in der Debatte vermehrt Konzepte wie Friendshoring oder Reshoring diskutiert, sei es im Bezug von Waren oder der Sicherung von Wertschöpfungsketten (Mariotti, 2022). Die deutsche Wirtschaft blieb davon bislang unbeeindruckt und baute ihre Präsenz in China durch Direktinvestitionen in den letzten Jahren sogar stark aus (Matthes, 2022). 

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Abhängigkeiten sollen überall dort reduziert werden, wo Wirtschaftsbeziehungen ein geopolitisches Konfliktpotenzial haben könnten, was insbesondere mit Blick auf autokratische Regime und – momentan besonders diskutiert – in Bezug auf China der Fall ist. Kritisch einzustufende Abhängigkeiten bestehen für Deutschland nicht nur auf der Absatzseite, sondern auch beim Import von wichtigen Rohstoffen, wie Magnesium, Seltene Erden oder Kobalt. Zahlreiche Lieferanten dieser Rohstoffe für die EU sind autokratisch regierte Länder (Fremerey/Gerards Iglesias, 2022).

Autokratien gewinnen an weltpolitischer und weltwirtschaftlicher Bedeutung

Die Loslösung vom Handel mit diesen autokratischen Regimen oder gar ein Decoupling würde der deutschen Wirtschaft nicht nur teuer zu stehen kommen, sondern wäre auch kontraproduktiv. Denn die Bedeutung der Autokratien in engerer Definition ist in den vergangenen zwanzig Jahren nicht geringer geworden – im Gegenteil: Der Anteil der in geschlossenen Autokratien (sogenannte „unfreie Staaten“ nach Freedom House Definition) lebenden Bevölkerung an der Weltbevölkerung ist von 35 auf 37 Prozent gestiegen (siehe Abbildung), wobei der größte Anteil mit 21 bzw. 18 Prozent (2000 bzw. 2020) allein auf China zurückzuführen ist. Die Anzahl an unfreien Ländern hat sich nur wenig verändert und liegt über den gesamten Zeitraum hinweg zwischen 41 und 50 Ländern.

Das wirtschaftliche Gewicht dieser Länder wird besonders deutlich, wenn man ihren Anteil an der weltweiten Wirtschaftsleistung oder auch ihren Anteil an den global ausgestoßenen CO2-Emissionen betrachtet: Das rasante Wirtschaftswachstum einzelner Länder aus dieser Gruppe sorgte für einen stetig wachsenden Anteil der Autokratien an der Weltwirtschaftsleistung, die kurz nach der Jahrtausendwende noch bei knapp über 10 Prozent, im Jahre 2020 aber bereits bei 26 Prozent lag. Für das Jahr 2030 prognostiziert der IWF für Länder wie China, Saudi-Arabien oder die Türkei weiter steigende Anteile an der Weltwirtschaftsleistung.

Noch deutlicher wird die Relevanz der autokratischen Länder mit Blick auf den Klimawandel. Der Anteil der CO2-Emissionen dieser Länder stieg in den vergangenen zwanzig Jahren von 21 Prozent auf über 47 Prozent an, sodass fast die Hälfte aller weltweit ausgestoßenen CO2-Emisisonen von harten Autokratien emittiert werden. Dass die Emissionen deutlich stärker steigen als die Produktion und einen ungleich höheren Weltanteil haben, lässt auf eine besondere Verantwortung dieser Länder bei der Bekämpfung des Klimawandels schließen. Einzelne Projekte und Kooperationen sollten hier weiter vorangebracht werden, wie es etwa bei der Vereinbarung über die Speicherung des klimaschädlichen Gases Methan gelungen ist, woran auch China Interesse zeigt (The Economist). Mit wirtschaftlich schwächeren Ländern könnten Energiepartnerschaften geschlossen werden, um sie auf dem Weg in die Dekarbonisierung aktiv zu unterstützen. Ein offener Klimaclub sollte Länder dazu animieren, nationale CO2-Preissysteme einzuführen und könnte den Handel mit grünen Technologien stärken.

Abhängigkeiten reduzieren aber keine Abschottung riskieren

Eine wertegeleitete Außenpolitik ist wichtig und richtig, darf aber eine Handelspolitik auch nicht überfrachten. Die EU und Deutschland müssen resilienter gegenüber geopolitischen Abhängigkeiten werden, indem sie auf alternativen Märkten aktiver werden. Eine Blockbildung oder umfassendes Friendshoring in der Handelspolitik wäre toxisch für die Globalisierung und den Klimaschutz und torpediert jegliche Kooperationsmöglichkeiten. Daher sollte eine gemeinsam abgestimmte Strategie von Politik und Wirtschaft verfolgt und auch konsequent umgesetzt werden. Absichtserklärungen von Regierungen und Unternehmen nützen wenig, wenn das tatsächliche Handeln genau in die Gegenrichtung läuft.

Wie man mit exzessiven ökonomischen Abhängigkeiten umgehen sollte, zeigt ein Blick nach Fernost. Japan ist ein historischer Rivale der Volksrepublik China, zugleich wirtschaftlich eng mit dem Reich der Mitte verwoben. Geopolitische Spannungen im Konflikt um die Senkaku-Inseln in den letzten Jahren bereiten auch den japanischen Unternehmen Sorgen, die ihre Abhängigkeit von China massiv reduzieren, indem sie ganze Wertschöpfungsketten in die ASEAN-Staaten, eine Freihandelszone mit dynamisch wachsenden Ökonomien, verlagern (Merics, 2022). Die Politik sorgte hier für eine günstige Ausgangslage – aber es waren die Unternehmen, die geopolitische Risiken einpreisten und ihre Investitionsentscheidungen folglich veränderten. Diversifizierung ist das Gebot der Stunde, nicht Abschottung oder Reshoring.

Die Aufgabe der Politik ist es, möglichst rasch weitere Handelsabkommen oder idealerweise Freihandelszonen mit dynamisch wachsenden Ökonomien des Globalen Südens abzuschließen, damit Unternehmen auch den Anreiz haben, sich in ihren Auslandsinvestitionen und Exportdestinationen zu diversifizieren. Aber auch Unternehmen sind angehalten, sich mehr als bisher als geopolitische Akteure zu sehen, deren Verantwortung es auch ist, langfristige Perspektiven und Sicherheiten zu schaffen. Zugleich sind sie Garanten der Globalisierung und sollten sich ihrer Funktion als wichtige Mittler zwischen Demokratien und Autokratien bewusst sein.

Der Krieg in der Ukraine könnte eine tiefgreifende Veränderung der globalen Handelsströme beschleunigen, indem Autokratien gegen liberale Demokratien ausgespielt werden. Ein zunehmendes Auseinanderdriften könnte negative Konsequenzen für die Weltwirtschaft und den Klimaschutz mit sich bringen. Diese Gefahr für Wohlstand und Frieden muss gebannt werden. 

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