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Jochen Pimpertz IW-Kurzbericht Nr. 15 3. März 2021 Krankenstand unter Corona – eine Interpretation

Trotz Corona ist der Krankenstand im Jahr 2020 gesunken. Dennoch weist die Bevölkerung im Erwerbsalter aktuell leicht überdurchschnittliche Inzidenzen auf; besonders stark betroffen sind aber die Hochbetagten. Vor diesem Hintergrund sollte nicht allein die bevölkerungsdurchschnittliche Inzidenz über Öffnungsperspektiven entscheiden.

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Krankenstand unter Corona – eine Interpretation
Jochen Pimpertz IW-Kurzbericht Nr. 15 3. März 2021

Krankenstand unter Corona – eine Interpretation

IW-Kurzbericht

Institut der deutschen Wirtschaft (IW) Institut der deutschen Wirtschaft (IW)

Trotz Corona ist der Krankenstand im Jahr 2020 gesunken. Dennoch weist die Bevölkerung im Erwerbsalter aktuell leicht überdurchschnittliche Inzidenzen auf; besonders stark betroffen sind aber die Hochbetagten. Vor diesem Hintergrund sollte nicht allein die bevölkerungsdurchschnittliche Inzidenz über Öffnungsperspektiven entscheiden.

Während zahlreiche Epidemiologen angesichts hochansteckender Mutationen vor einer dritten Corona-Welle warnen, wird in Berlin und den Landesregierungen um Öffnungsperspektiven gerungen. Denn insbesondere die Bereiche Handel, Verkehr und Gastgewerbe sowie sonstige Dienstleister wie Kulturschaffende sind von den Einschränkungen wirtschaftlich stark betroffen. Trotz des einsetzenden Aufholprozesses hinken auch das Verarbeitende Gewerbe und Unternehmensdienste (zum Beispiel Steuer- und Rechtsberatung) dem Vorkrisenniveau hinterher (Grömling, 2021). Einmal mehr steht die Politik vor der Aufgabe, epidemiologisch begründete Einschränkungen gegen die wirtschaftlichen und sozialen Folgen abzuwägen.

Eine Fortsetzung des partiellen Lockdowns wird unter anderem mit den Inzidenzzahlen des Robert Koch-Instituts begründet (RKI, 2021). Nach dessen aktuellem Wochenbericht (7. Kalenderwoche) sind vor allem hochbetagte Menschen besonders stark vom Infektionsgeschehen betroffen:

  • Bei über 85-Jährigen betrug die 7-Tage-Inzidenz 91,6, bei 90-Jährigen und Älteren sogar 130,5.
  • Jüngere Ruheständler ab einem Alter von 65 Jahren scheinen mit Werten von rund 43 bis 60 dagegen gut geschützt - der Bevölkerungsdurchschnitt lag bei 62,7.
  • Auch Kinder und Jugendliche bis zu einem Alter von 14 Jahren sind nicht zuletzt aufgrund geschlossener Kindertagesstätten und Schulen mit Inzidenzen von 34,5 bis 42,2 seltener betroffen.
  • Anders das Bild bei den Personen im Erwerbsalter: In der Altersgruppe der 15- bis 59-Jährigen liegen die Inzidenzen zwischen 65,8 und 85,4, also über dem Bevölkerungsdurchschnitt. Den Höchstwert in dieser Gruppe weisen die 20- bis 24-Jährigen auf. Eine Interpretation dieses Werts ist allerdings ohne weitere empirische Studien nicht möglich.

Die Daten mögen erklären, warum in der Abwägung möglicher Öffnungsperspektiven auf die Infektionsgefahren bei der Berufsausübung hingewiesen wird. Misslich ist dabei allerdings, dass empirisch nicht geklärt ist, ob sich die Betroffenen im beruflichen Kontext, auf dem Weg von und zur Arbeit oder im privaten Umfeld infiziert haben.

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Eine Einordnung der Inzidenzen ist umso schwieriger, als die Entwicklung des Krankenstands ein positives Bild zeichnet. Nach den Daten des BKK-Dachverbands lagen die monatlichen Krankenstände seit Mai letzten Jahres durchweg auf oder sogar unter dem Niveau der jeweiligen Monatswerte aus den Jahren 2019 und 2018 (BKK-Dachverband, 2021).

Im Rahmen einer Stichprobe melden die teilnehmenden Betriebskrankenkassen (BKK) monatlich die ärztlich attestierten Krankschreibungen ihrer beschäftigten Mitglieder. Die Ergebnisse stehen für insgesamt 4,3 Millionen beschäftigte BKK-Mitglieder oder rund 13 Prozent der gesetzlich krankenversicherten Vergleichsgruppe, auch wenn die Stichprobe keine Vollerfassung aller Beschäftigten gewährleisten kann, die in einer BKK versichert sind (BKK-Dachverband, 2020).

Zunächst zeigen die Daten für den März des vergangenen Jahres einen sprunghaften Anstieg des Krankenstands. Der Peek lässt sich vor allem dadurch erklären, dass aufgrund anfänglich fehlender Testkapazitäten verdächtige Atemwegserkrankungen zu vermehrten Krankschreibungen im Rahmen der telefonischen Konsultation geführt haben (Pimpertz, 2020). Im April sank der Krankenstand aber wieder fast bis auf Vorjahresniveau, auch die attestierten Atemwegserkrankungen gingen deutlich zurück. Seit Mai 2020 liegen die Monatswerte durchweg auf oder unter den Vergleichswerten der beiden Vorjahre; Atteste aufgrund von Atemwegserkrankungen gingen noch deutlicher zurück. Das erlaubt zunächst zwei Interpretationen:

  • Zum einen ist zu vermuten, dass Lockdown sowie Abstands- und Hygieneregeln das zuvor beobachtbare Infektionsgeschehen aufgrund von Erkältungskrankheiten günstig beeinflusst haben.
  • Zum anderen stützt das latent niedrigere Niveau der attestierten Atemwegserkrankungen die Vermutung, dass die im Spätherbst erneut eingeführte Möglichkeit einer telefonischen Krankschreibung in der Regel nicht missbräuchlich in Anspruch genommen wird.

Bestätigte Corona-Fälle oder nicht bestätigte Verdachtsfälle werden aber nicht unter den Atemwegserkrankungen, sondern in separaten Positionen codiert und in der BKK-Statistik unter „sonstigen Diagnosen“ subsummiert. Gemessen am jahresdurchschnittlichen Krankenstand ist der Anteil aller „sonstigen Diagnosen“ (einschließlich COVID-19) zuletzt von 8,4 auf 8,5 Prozent gestiegen. Dieser Zuwachs wurde durch die allgemeine Entwicklung deutlich überkompensiert.

Differenziert man die Krankenstandentwicklung weiter nach Altersgruppen, dann zeigt sich bei den 55-jährigen und älteren Beschäftigten, die bei einer BKK versichert sind, ein leichter Anstieg gegenüber den beiden Vorjahren. In den anderen Altersgruppen ist dagegen ein leichter Rückgang zu verzeichnen. Auch dieser Befund kontrastiert zu den Daten des Robert Koch-Instituts, das für die entsprechende Bevölkerungsgruppe zuletzt unauffällige (55- bis 59-Jährige) oder sogar unterdurchschnittliche Inzidenzen ausweist (60- bis 64-Jährige).

Fazit: Die aktuelle Krankenstandentwicklung erlaubt keine kausale Interpretation, insbesondere weil die Frage unbeantwortet bleibt, an welchem Ort sich die Infektionen ereignet haben. Unabhängig davon stützen die Daten aber die Vermutung, dass die Vorkehrungen der Arbeitgeber dazu beitragen, das Infektionsgeschehen zu kontrollieren, statt es zu befördern. Anderenfalls müsste sich ein erhöhtes Infektionsrisiko der Arbeitnehmer auch im Krankenstand niederschlagen.

  • Zwar könnten großzügige Home-Office-Regeln den niedrigen Krankenstand erklären. Denn bei milden Verläufen ist ein Weiterarbeiten trotz Infektion möglich. Davon profitiert aber nur ein Teil der Belegschaften.
  • Für alle, deren Tätigkeit eine Präsenz im Betrieb erfordert, wäre aber bei einem erhöhten Infektionsrisiko mit einem Anstieg des Krankenstands zu rechnen. Die Untergliederung der BKK-Daten nach Wirtschaftsgruppen liefert dafür aber keine Indizien. Insbesondere im Verarbeitenden Gewerbe zeigen sich keine atypischen Entwicklungen (BKK-Dachverband, 2021). Lediglich das Baugewerbe weist einen leicht erhöhten, das Gesundheits- und Sozialwesen dagegen einen deutlich höheren Krankenstand auf.

Auch wenn die Gegenüberstellung von Inzidenzen und Krankenstand keine kausale Ableitung erlaubt, legen die Infektionszahlen der Hochbetagten nahe, weitere politische Anstrengungen auf den Schutz dieser Gruppe zu konzentrieren. Ob dagegen die bevölkerungsdurchschnittliche Inzidenz allein maßgeblich sein sollte für die Abwägung zwischen Bevölkerungsschutz und wirtschaftlichen Folgen eines verlängerten Lockdowns, erscheint zumindest diskussionswürdig.

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