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Hagen Lesch IW-Kurzbericht Nr. 11 4. Februar 2020 100 Jahre betriebliche Mitbestimmung in Deutschland

Im Februar 1920 trat das sogenannte Betriebsrätegesetz in Kraft. Dieses Gesetz stellt die Geburtsstunde der betrieblichen Mitbestimmung in Deutschland dar. Erstmals wurden betriebliche Interessenvertretungen verbindlich verankert und den Betriebsräten Mitwirkungs- und Mitbestimmungsrechte in sozialen und personellen Angelegenheiten eingeräumt.

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100 Jahre betriebliche Mitbestimmung in Deutschland
Hagen Lesch IW-Kurzbericht Nr. 11 4. Februar 2020

100 Jahre betriebliche Mitbestimmung in Deutschland

IW-Kurzbericht

Institut der deutschen Wirtschaft (IW) Institut der deutschen Wirtschaft (IW)

Im Februar 1920 trat das sogenannte Betriebsrätegesetz in Kraft. Dieses Gesetz stellt die Geburtsstunde der betrieblichen Mitbestimmung in Deutschland dar. Erstmals wurden betriebliche Interessenvertretungen verbindlich verankert und den Betriebsräten Mitwirkungs- und Mitbestimmungsrechte in sozialen und personellen Angelegenheiten eingeräumt.

Zu den Aufgaben des Betriebsrats gehörte es unter anderem, die Betriebsleitung durch Rat zu unterstützen, um auf diese Weise für einen möglichst hohen Stand und für möglichste Wirtschaftlichkeit der Betriebsleistungen zu sorgen, an der Einführung neuer Arbeitsmethoden fördernd mitzuarbeiten, gemeinsame Dienstvorschriften im Rahmen der geltenden Tarifverträge mit dem Arbeitgeber zu vereinbaren oder auf die Bekämpfung der Unfall- und Gesundheitsgefahren zu achten. Dem Betriebsrat wurde ferner ein Recht auf Einsichtnahme in die Betriebsvorgänge zugestanden und ein Mitspracherecht bei einer größeren Zahl von Einstellungen oder Entlassungen eingeräumt. Schließlich hatte er die Aufgabe, über die Einhaltung der maßgebenden Tarifverträge zu wachen. Dabei sollten Unternehmensleitung und Betriebsrat kooperativ miteinander umgehen.

Nachdem die Mitbestimmung der Arbeitnehmer 1934 durch das Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit suspendiert wurde, wurde die betriebliche Mitbestimmung im Jahr 1952 durch das Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) wieder eingeführt. Auch im BetrVG wird auf ein kooperatives Miteinander gesetzt: „Arbeitgeber und Betriebsrat arbeiten unter Beachtung der geltenden Tarifverträge vertrauensvoll und […] zum Wohl der Arbeitnehmer und des Betriebs zusammen“ (§ 2 Abs. 1 BetrVG).

Im Vergleich zum Betriebsrätegesetz wurden dem Betriebsrat im BetrVG deutlich mehr und auch differenziertere Rechte eingeräumt (Niedenhoff, 2020). Im Gesetz von 1920 beschränkte sich die echte Mitwirkung vor allem auf die Vereinbarung von Dienstvorschriften mit dem Arbeitgeber, auf die Verwaltung von Pensionskassen, Werkswohnungen und sonstiger Betriebswohlfahrtseinrichtungen und auf die Überwachung der Einhaltung von Tarifverträgen. Das BetrVG räumt den Arbeitnehmern hingegen zahlreiche Mitwirkungs- und Mitbestimmungsrechte in sozialen, personellen und auch wirtschaftlichen Angelegenheiten ein. Die erzwingbaren Mitbestimmungsrechte umfassen unter anderem die Ordnungs- und Verhaltensregeln im Betrieb, kollektive Arbeitszeitregelungen, Überstunden und Kurzarbeit, Fragen der betrieblichen Lohngestaltung, der Entlohnungsgrundsätze sowie der Entlohnungsmethoden, Sozialpläne bei Betriebsänderungen, die Durchführung betrieblicher Bildungsmaßnahmen oder die Regelungen zur Unfallverhütung und Gesundheitsdienst.

Das BetrVG gilt heute als „eine der tragenden Säulen der Arbeitsmarktordnung“ in Deutschland (Schneider et al., 2019, 110). Eine Umfrage unter Personalverantwortlichen aus dem Jahr 2018 zeigt, dass es Unternehmensleitung und Betriebsrat trotz aller Interessenunterschiede in 95 Prozent aller betrieblichen Entscheidungen gelingt, einen Konsens herzustellen (Schneider et al., 2019, 118). Trotz dieser guten Zusammenarbeit und der dadurch potenziell erreichbaren Vorteile, ist die Reichweite der betrieblichen Mitbestimmung in Deutschland aber beschränkt. Damals wie heute haben die Arbeitnehmer ein Recht dazu, Betriebsräte zu wählen, sie müssen es aber nicht. Ein Betriebsrat existiert gerade mal in 9 Prozent aller Betriebe mit mindestens fünf Mitarbeitern (Ellguth/Kohaut, 2019, 295). Während in kleineren und mittleren Betrieben selten ein Betriebsrat gewählt wird, ist er in Betrieben mit mehr als 500 Mitarbeitern Standard. Aufgrund dieses Betriebsgrößeneffekts ist die Reichweite der betrieblichen Mitbestimmung unter den Beschäftigten höher. So arbeiten im Westen 42 und im Osten 35 Prozent der Beschäftigten in Betrieben mit einem Betriebsrat. Vorbehalte gegenüber der Einrichtung eines betrieblichen Mitbestimmungsgremiums bestehen vor allem in inhabergeführten Unternehmen. Viele Firmenchefs sind offenbar der Ansicht, sie könnten für das Wohl des Betriebs und seiner Arbeitnehmer allein besser sorgen.

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Damit bestehen in Deutschland unterschiedliche Welten der Partizipation von Beschäftigten. Es gibt eine Welt der Großunternehmen, in der Betriebsräte ein fester Bestandteil der Arbeitsbeziehungen sind. Auf der anderen Seite gibt es die Welt des inhabergeführten Mittelstands, dem betriebliche Mitbestimmung eher fremd ist. Allerdings sollte man die Partizipation von Beschäftigten nicht auf die Interessenvertretung durch einen Betriebsrat verkürzen. Dies würde dem Umstand nicht gerecht, dass sich vielerorts alternative Formen der Mitarbeitervertretung abseits der Betriebsverfassung finden (Schnabel/Wagner, 2001; Stettes, 2010). Immerhin existieren in 18 Prozent aller Betriebe alternative betriebliche Vertretungsorgane wie Mitarbeitervertretungen, Belegschaftssprecher oder Runde Tische (Ellguth/Kohaut, 2019). Auch sie räumen den Beschäftigten eine Partizipation an betrieblichen Entscheidungsprozessen ein. Eine Auswertung von Daten des Sozio-oekonomischen Panels aus dem Jahr 2016 – in diesem Jahr wurde letztmals danach gefragt, ob eine Person in einem Betrieb mit Betriebs- oder Personalrat (in öffentlichen Unternehmen) arbeitet – zeigt: Die Arbeitszufriedenheit liegt in der Gruppe der Arbeitnehmer, die in einem Betrieb mit einem Betriebs- oder Personalrat arbeiten, nicht signifikant höher als in der Gruppe der Arbeitnehmer, die in einem Betrieb ohne Betriebs- oder Personalrat arbeiten.

Dennoch wird intensiv darüber diskutiert, ob das BetrVG angesichts der Digitalisierung der Arbeitswelt modernisiert und seine Reichweite ausgeweitet werden muss. Ob eine Ausweitung des vereinfachten Wahlverfahrens zu einer höheren Reichweite der betrieblichen Mitbestimmung führen wird, ist mehr als fraglich. Nach dem vereinfachten Wahlverfahren kann ein Betriebsrat in keiner kürzeren Frist gewählt werden. Es ist aber juristisch umstritten, ob die Wahl eines Betriebsrats dadurch tatsächlich erleichtert wird. Das 2001 eingeführte Verfahren hat in den betroffenen Betrieben jedenfalls keinen Gründungsboom ausgelöst, wie die geringe Betriebsrätedichte unter den Betrieben mit bis zu 50 Beschäftigten zeigt.

Einer möglichen Ausweitung von Mitwirkungs- und Mitbestimmungsrechten des Betriebsrats aufgrund der Herausforderungen durch die Digitalisierung sollte eine sorgfältige Prüfung dessen vorausgehen, was das BetrVG bereits an Möglichkeiten einräumt. Bei dem zum Erhalt der Beschäftigungsfähigkeit der Arbeitnehmer wichtigen Ansatzpunkt „Bildung“ sind bereits wichtige Mitbestimmungsrechte im BetrVG implementiert (Niedenhoff, 2020, 59). So schreibt § 96 Abs. 1 BetrVG vor, dass der Arbeitgeber auf Verlangen des Betriebsrats den Berufsbildungsbedarf zu ermitteln hat. Fragen der Berufsbildung der Arbeitnehmer des Betriebs muss der Arbeitgeber mit dem Betriebsrat zusammen beraten. Gemäß § 97 Abs. 2 BetrVG bestimmt der Betriebsrat bei der Einführung von Maßnahmen der betrieblichen Berufsbildung mit. In § 98 wird dem Betriebsrat die Mitbestimmung bei der Durchführung betrieblicher Bildungsmaßnahmen eingeräumt. Damit der Betriebsrat seine Aufgaben erfüllen kann, verpflichtet § 92 BetrVG den Arbeitgeber, den Betriebsrat über die Personalplanung und den Personalbedarf sowie über die sich daraus ergebenden personellen Maßnahmen und Maßnahmen der Berufsbildung anhand von Unterlagen rechtzeitig zu unterrichten. Der Betriebsrat kann demnach bereits nach geltendem Recht frühzeitig die zu erwartenden Soll-Qualifikationsanforderungen mit dem Ist-Zustand der Qualifikation abgleichen und entsprechende Maßnahmen einfordern.

Der Betriebsrat kann nach geltendem Recht auch schon umfassend an der Flexibilisierung von Arbeitszeit und Arbeitsort mitwirken. Hinzu kommen seine Unterrichtungs- und Beratungsrechte über die wirtschaftliche und finanzielle Lage des Unternehmens, die Produktions- und Absatzlage, das Produktions- und Investitionsprogramm, Rationalisierungsvorhaben, die Einführung neuer Arbeitsmethoden, die Einschränkung oder Stilllegung von Betrieben oder über die Änderung der Betriebsorganisation oder des Betriebszwecks.

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