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Michael Hüther in DIE ZEIT Interview 29. November 2023

Schuldenbremse: Sollte man die Schuldenbremse lockern?

Im Streitgespräch mit der ZEIT sagen IW-Direktor Michael Hüther zur Lockerung der Schuldenbremse ja, weil der Wohlstand gefährdet sei und Veronika Grimm, Professorin an der Universität Nürnberg-Erlangen, nein, weil sie Verschwendung verhindert.

Herr Hüther, Sie haben sich für eine Reform der Schuldenbremse ausgesprochen. Warum?

Hüther: Am Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum aktuellen Haushalt zeigt sich, dass die Schuldenbremse heute nicht flexibel genug ist. Das Gericht hat sie sogar noch verschärft: Die im Rahmen einer Notlage bewilligten Kredite müssen in demselben Kalenderjahr ausgegeben werden, in dem die Notlage festgestellt wurde. Damit passt die geltende Regel nicht zu großen Investitionsprojekten, die weit über den Zeitraum von zwölf Monaten hinausweisen und die wir mit Blick auf den Umbau der Wirtschaft zur CO₂-Neutralität brauchen.

Wie sollte eine Reform konkret aussehen?

Hüther: Man sollte in zwei Stufen vorgehen: Kurzfristig scheint mir in jedem Fall eine verfassungsändernde Zweidrittelmehrheit notwendig für eine außerordentliche und rechtlich tragfähige Schuldenaufnahme. Regierung und Opposition könnten analog zum Bundeswehr-Sondervermögen sagen: Wir haben mit der Klimatransformation eine große, vor allem mehrjährige Aufgabe und nehmen Investitionen dafür von der Schuldenbremse aus. Alle anderen Maßnahmen – also etwa eine Haushaltsnotlage zu verkünden – sind Gemauschel und halten den Kriterien des Verfassungsgerichts wohl auch nicht stand. Die strukturelle Reform der Schuldenbremse müsste dann in einem zweiten Schritt später gemacht werden, etwa mit einer Investitionsklausel, sodass Investitionen nicht mehr durch die Schuldenbremse begrenzt werden wie heute.

Frau Grimm, würden Sie die Schuldenbremse jetzt auch reformieren?

Grimm: Nein, das ist nicht der richtige Zeitpunkt. Es wäre, wie hungrig einkaufen zu gehen. Das kann man sich langfristig vornehmen, wenn es dafür überhaupt die Mehrheiten geben sollte. Gerade ist das Problem ein anderes: Die Regierung hat viele Entlastungsmaßnahmen als Klimaschutz verkauft, die aber gar kein Klimaschutz sind. Das funktioniert nun nicht mehr. Man sollte mehrstufig vorgehen: Erstens brauchen wir einen Kurswechsel in der Klimapolitik, sodass die Zielerreichung mit weniger Fördermaßnahmen möglich ist. Zweitens gilt es, Ausgaben im Haushalt zu priorisieren und zu schauen, was sich einsparen lässt. Wenn man dann immer noch zusätzliche Beträge mobilisieren müsste, dann würde ich Herrn Hüther recht geben: Das sollte man unbedingt mit Zweidrittelmehrheit über ein Sondervermögen machen. Dafür muss man aber nicht an die Schuldenbremse.

Wo sollte die Regierung denn sparen?

Grimm: Sie sollte beim Klimaschutz stärker auf den Emissionshandel setzen. Das schafft Einnahmen zur Entlastung der Menschen, und man braucht weniger teure Förderprogramme, um die Ziele zu erreichen. Außerdem werden seit Langem Reformen bei der Rente oder bei Steuererleichterungen für fossile Energieträger angemahnt. Das sollte man jetzt umsetzen. Und dann gibt es weitere Stellschrauben: Man muss Handwerkerkosten ja nicht unbedingt von der Einkommensteuer absetzen können. Das nützt vor allem Wohlhabenden. Es gibt also viele Möglichkeiten, zu konsolidieren.

Hüther: Zur Reform der Rente oder allgemein der Sozialversicherung gibt es sicherlich interessante Vorschläge. Aber das Gericht hat ein Urteil zum Staatsschuldenrecht gefällt. Das sollte man nicht als Hebel zum Großreinemachen bei der Staatstätigkeit nutzen; auch sind gesetzgeberische Pfadabhängigkeiten zu beachten. Das würde dem Urteil auch nicht gerecht. Ich finde es im Übrigen höchst erstaunlich, dass das Gericht keine Orientierung für die Übergangsphase geliefert hat wie bei den Urteilen zur Grundsteuer oder zur Vermögensteuer. Die Verunsicherung der Investoren ist für den Standort nun wirklich ein Problem. Gleich ob man die geplanten Subventionen der Regierung gut oder schlecht findet, ist nun die Standortverlässlichkeit, also die Rechtssicherheit infrage gestellt.

Was spricht dagegen, Dinge zu streichen, die vielleicht nicht sinnvoll sind?

Hüther: Dagegen spricht nichts, das muss der Staat ja immer machen. Aber im Konkreten ist das meist nicht so eindeutig. Man kann die Förderung von Chipherstellern wie Intel und TMSC fragwürdig finden. Dem gegenüber steht aber die Herausforderung, angesichts der gestiegenen geopolitischen Risiken bei der Halbleiterproduktion unabhängiger zu werden. Mich erinnert das an die Diskussion vor 30 Jahren: Damals hat man lange darüber diskutiert, ob die Halbleiterproduktion in Dresden gefördert werden soll. Man hat es gemacht, heute ist Dresden der fünftgrößte Halbleiterstandort der Welt. Das beklagt keiner mehr.

Grimm: Aus meiner Sicht ist das Urteil eine Chance, die Klimapolitik neu auszurichten: Es geht nämlich zulasten künftiger Generationen, Klimaschutz mit teuren Förderprogrammen zu betreiben, die dann auch noch schuldenfinanziert sind. Das führt zu vielen Ausgaben, die alles andere als zukunftsorientiert und sozial ausgewogen sind. Wir fördern etwa wohlhabenden Haushalten den Heizungsaustausch und halten mit viel Geld Produktion künstlich am Leben, die ohne staatliche Unterstützung dauerhaft in Deutschland keine Zukunft hat. Das Land wird durch die aktuellen Krisen erst einmal ärmer. Man kann da nicht allen versprechen, dass sie ihren Lebensstandard aufrechterhalten können wie bisher.

Welche Firmen würden Sie nicht fördern?

Grimm: Es sind etwa Klimaschutzverträge geplant, die für einzelne Unternehmen die Umstellung der Produktion auf Wasserstoff fördern. So kommen nicht unbedingt diejenigen zum Zuge, die die besten Geschäftsmodelle haben, sondern diejenigen mit der besten Lobby. Man sollte den Wasserstoff über Ausschreibungsverfahren weltweit beschaffen und dann in Europa an die Meistbietenden vergeben. Ein guter Weg dafür ist das Programm H2Global, über das die Bundesregierung die Wasserstoffbeschaffung schon heute mit vier Milliarden Euro fördern will. Dann sind die erfolgreich, die die besten Geschäftsmodelle haben.

Würden Sie auch die Zuschüsse für Intel oder TSMC streichen?

Grimm: Grundsätzlich bin ich skeptisch, ob man wirklich diese hohen Beträge aufwenden sollte. Angesichts der anstehenden Wahlen im Osten und des Vertrauensverlusts, der bei einem Scheitern der Ansiedlungen entstünde, gibt es aber gute Gründe, daran festzuhalten.

Hüther: Die Regierung hat diese Maßnahmen mit parlamentarischer Mehrheit beschlossen. Und die sollen wir jetzt wegen eines Urteils zur Anwendung der Schuldenbremse durchweg streichen? Das leuchtet mir aus einer demokratietheoretischen Perspektive nicht ein. Aber natürlich wird man neu priorisieren müssen.

Grimm: Die Bundesregierung hat aber unter Voraussetzungen agiert, die einfach nicht gegeben waren. Sie wollte die Schuldenbremse einhalten, aber trotzdem die Ausgabewünsche aller drei Koalitionspartner finanzieren. Das passt nicht zusammen, und die Konsequenzen sehen wir jetzt.

Hüther: Es ist doch so: Märkte müssen neu erschlossen – hochgefahren – werden, etwa beim Wasserstoff. Das passiert nicht von selbst, weil die fossilen Lösungen bislang billiger sind. Wir aber wollen einen Strukturwandel per Termin organisieren, bis 2045 soll die Wirtschaft klimaneutral sein. Die Frage ist, wie lässt sich das organisieren. Und da kann man nicht mehr einfach sagen: Industriepolitik ist Teufelszeug. Die Welt hat sich weiterentwickelt und damit auch die politischen Herausforderungen für die Wettbewerbsfähigkeit. Schauen Sie nur, was die USA an Subventionen ausgeben.

Grimm: Wir verklären aus meiner Sicht ein wenig die Politik in den USA: Joe Biden handelt aus politischer Not. Ein CO₂-Preis ist in den USA nicht durchsetzbar, obwohl das die effizientere Lösung wäre. Wenn die Programme verfangen und teuer werden, dann wird sich die Subventionspolitik nicht durchhalten lassen. Es gibt schon heute ernst zu nehmende Warnungen vor den Gefahren durch die Staatsschulden in den USA. Am Ende wird man – wie seinerzeit beim EEG in Deutschland – zurückrudern, weil es zu teuer wird.

Warum sind Sie so skeptisch bei aktiver Industriepolitik?

Grimm: Stellt die Politik große Summen in Aussicht, so rufen die Lobbyisten nach Subventionen. Deutschland hat zum Beispiel Unternehmen Beihilfen für den Strompreis in Aussicht gestellt, die sie gar nicht brauchen. Wenn man Klimaschutz mit technologiespezifischer Förderung in großem Umfang erreichen will, passiert eben auch viel Unsinn. Mitnahmeeffekte sind nie ganz vermeidbar. Aber es darf nicht passieren, dass wir uns Stück für Stück stärker verschulden, ohne dass die Transformation zur Klimaneutralität oder zur Digitalisierung gelingt.

Herr Hüther, Ihr Institut wird ja auch von Unternehmensbeiträgen finanziert. Hat Frau Grimm recht?

Hüther: Natürlich führen Subventionsangebote auch zu Subventionsnachfrage. Trotzdem bleibt es ja an vielen Stellen richtig, sie zu gewähren. Nehmen Sie die Batteriezellfertigung. Die Automobilbranche hat vor acht Jahren noch gesagt: Batterien sind homogene Massengüter, warum sollen wir uns drum kümmern? Die gab es ja im Ausland günstig unbegrenzt zu kaufen. Nun stellen wir in der veränderten geopolitischen Lage fest: Das war ein strategischer Fehler. Es hat offensichtlich Sinn, darüber nachzudenken, ob wir auch hier Batteriefertigung haben. Es gibt weltweit keinen Standort ohne Subvention. Davor kann man doch die Augen nicht verschließen. Diese allgemeine Feststellung, dass das in eine gefährliche Verschuldung führt, halte ich auch nicht für stichhaltig. Die deutsche Schuldenquote – also der Anteil der Schulden am Bruttoinlandsprodukt – lag Ende 2022 bei rund 66 Prozent. Da müssen wir nicht in Ohnmacht fallen, das ist kein Problem für die Tragfähigkeit der Staatsschulden. Aber natürlich ist richtig: Wir müssen sehr viel gezielter fördern.

Die Staatsschuldenquote ist heute deutlich höher als in den Fünfziger- oder Sechzigerjahren. Ist der Ansatz der Schuldenbremse, Politikern im Sinne künftiger Generationen die Hände ein wenig zu binden, nicht ebenso Ausdruck des Nachhaltigkeitsgedankens?

Hüther: Ja, natürlich. Letztlich geht es um die Frage, wie man es macht. Mit der heutigen Regel, dass die Neuverschuldung in normalen Zeiten lediglich 0,35 Prozent des Bruttoinlandsproduktes betragen darf, wird sich die Schuldenquote fortlaufend verringern. Selbst wenn diese Verschuldung viel höher läge, etwa bei 1,5 Prozent der Wirtschaftsleistung, läge die Staatsverschuldung im Jahr 2030 lediglich bei 61 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Niedrige Schulden sind ohnehin kein Wert an sich, sondern sie müssen sich an der Wettbewerbsfähigkeit der Volkswirtschaft und der Qualität der Staatstätigkeit messen lassen.

Frau Grimm, Sie haben gerade deutlich mit dem Kopf geschüttelt?

Grimm: Ja! Dass die Schuldenquote so stark sinkt, das droht uns nun wirklich nicht! Die nächste Krise kommt bestimmt. Es sieht weltpolitisch eher danach aus, als würden sich die Krisen häufen. Wir werden in absehbarer Zeit ohnehin wieder den Notfall ausrufen und die Ausnahmeregelung nutzen. So wie es in den Jahren 2020 bis 2022 der Fall war und nun für 2023 geplant ist. Vor diesem Hintergrund ist es mir lieber, wenn die Staatsschuldenquote um die 60 Prozent liegt und nicht bei 100 Prozent. Schon heute haben in Europa zu viele Länder zu hohe Staatsschuldenstände. Da muss sich Deutschland auch überlegen, welches Signal es sendet.

Und wenn man Investitionen von der Schuldenregel ausnimmt?

Grimm: Das klingt zwar zunächst gut. Aber es ist schwierig, Investitionen in einer zielführenden Weise abzugrenzen. Angesichts der vielfältigen Interessen im Föderalismus und bei Mehrparteienregierungen besteht die Gefahr, dass man bei der Definition des Begriffs allerlei Ausgaben als Investitionen definiert, die eigentlich keine sind. Viele wichtige und zukunftsorientierte Ausgaben, zum Beispiel für Bildung, fallen außerdem definitiv nicht unter "Investitionen" – da geht es etwa um Ausgaben für Personal.

Hüther: Diese Definition könnte man an ein unabhängiges Gremium von Wissenschaftlern übertragen. Wir werden keine resiliente Volkswirtschaft bekommen, wenn wir die Unternehmen verunsichern und zu wenig in die öffentliche Infrastruktur investieren.

Grimm: Für die Finanzierung von Infrastruktur gäbe es auch heute die Möglichkeit, im Einklang mit der Schuldenbremse auf Infrastrukturgesellschaften zu setzen, die nutzerfinanziert und dadurch verschuldungsfähig sind. Durch die Beteiligung privater Geldgeber würde zudem das Geld in die lohnenderen Projekte gelenkt. Zum Beispiel für Autobahnen könnten dann die Nutzer bezahlen.

Hüther: Das sind alles bunte Vorschläge, die jetzt aber nur bedingt weiterhelfen. Ich finde es falsch, wenn man aus dieser Krisensituation viele Wünsche ableitet, die man immer schon mal hatte. Im Rahmen des bestehenden Rechts können wir mit solchen Infrastrukturgesellschaften ohnehin sehr schnell in demokratietheoretisch fragwürdige Steuerungsprobleme kommen, die jedenfalls so einfach nicht geklärt werden können. Und teurer würde die Finanzierung zudem.

Grimm: Ich glaube durchaus, dass man auf dieses Urteil reagieren kann, indem man den Geist der Schuldenbremse ernst nimmt und wieder stärker auch auf fiskalische Nachhaltigkeit setzt. Schließlich hat der Gesetzgeber der Schuldenbremse Verfassungsrang gegeben. Natürlich sehen diejenigen, die die Schuldenbremse schon immer loswerden wollten, jetzt dafür die Gelegenheit. Fakt ist aber: Wir haben Schuldenregeln und aktuell keine Mehrheit, diese zu ändern. Also müssen wir bei den Staatsausgaben priorisieren und weniger Wichtiges streichen. Eine Zweidrittelmehrheit für zusätzliche Mittel aus Schulden in begrenztem Umfang erscheint mir nur realistisch, wenn die Regierung zunächst einmal den Kurs ändert.

Hüther: Ich glaube, dass man immer wieder ganz unaufgeregt prüfen sollte, ob Regeln noch zeitgemäß sind. Es ist normal, wenn Politik aus Erfahrung lernt und sich an neue Situationen anpasst. Mir hat bisher noch niemand erklären können, warum diese Schuldenbremse ein heiliger Text sein soll – und das noch um den Preis einer Standortkrise.

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