Im Bundestagswahlkampf spielt die Wirtschaft und ihre Themen nur eine untergeordnete Rolle – und das, obwohl es auch für Unternehmen um eine Richtungsentscheidung geht und die Herausforderungen groß sind. Was IW-Direktor Michael Hüther dazu denkt – und fordert.
„Demografische Alterung und Klimaneutralität verlangen konsequente und stimmige Entscheidungen”
Wie lautet Ihr Urteil über die Wirtschaftspolitik der großen Koalition in den vergangenen vier Jahren? Was ist gut gelaufen, was nicht?
Konsistente Wirtschaftspolitik hat es nicht gegeben. Steuerpolitisch und sozialpolitisch gab es keinen Fortschritt. Das Klimapaket 2019 war systematisch ein Lichtblick, das Fachkräfteeinwanderungsgesetz 2020 ebenso. Angemessen war die fiskalpolitische Kompensation der Pandemie im Jahr 2020, allerdings haperte es bei der Umsetzung. Keine Antwort hat die Regierung auf die infrastrukturellen Notwendigkeiten gefunden.
Was sollten die drei wirtschaftspolitischen Top-Prioritäten der nächsten Bundesregierung sein?
Demografische Alterung und Klimaneutralität verlangen konsequente und stimmige Entscheidungen; jedes Zögern kostet enorm, weil Anpassungs- und Innovationszeit fehlt. Jeweils sind robuste Bedingungen für die Erwartungsbildung zentral. Dazu kommen untrennbar Europa und globale Kooperation. Nur ein ökonomisch starkes und sicherheitspolitisch souveränes Europa kann die notwendige globale Kooperation erreichen (z.B. Klimaclub).
Sind Wirtschaftswachstum und Klimaschutz letztlich doch sich widersprechende Ziele oder wie lassen sich – konkret – Ökonomie und Ökologie miteinander in Einklang bringen?
Klimaschutz hängt wesentlich von der Innovationsleistung der Unternehmen ab. Die setzt wirtschaftliche Dynamik im Wettbewerbsprozess und Kapitalkraft voraus. Das Ende des fossilen Zeitalters bedeutet nicht das Ende der Marktwirtschaft, sondern lebt von deren Erneuerungsfähigkeit unter gänzlich anderen Bedingungen. Der CO2-Preis ist das marktliche Steuerungsinstrument dabei, das auf die dezentrale Anpassung und Erfindung setzt.
Im Zuge der Coronakrise ist die Staatsverschuldung erheblich angestiegen. Braucht es jetzt schnellstmöglich wieder Konsolidierung und dafür womöglich Steuererhöhungen – oder ist die hohe Verschuldung gar nicht so problematisch?
Die Coronaschulden sind, wie es NRW mit 50 Jahren plant, langfristig zu tilgen, um Konsolidierungsschäden durch Steuererhöhungen zu vermeiden. Eine investitionsorientierte Verschuldung für die Infrastruktur zur Digitalisierung, Dekarbonisierung und demografische Alterung (in einem „Deutschlandfonds“) macht ökonomisch Sinn, zumal die Zinsen auf Staatsanleihen absehbar niedriger sein werden als die gesamtwirtschaftliche Dynamik.
Wie beurteilen Sie die Lage und die Aussichten für die deutsche Wirtschaft – konjunkturell, aber auch strukturell?
Konjunkturell klemmt durch Engpässe bei Vorleistungen die Angebotsseite, die Nachfrage brummt ausweislich der Auftragsbestände und der Dynamik des Welthandels. Insoweit sich die Beschaffungsprobleme im weiteren Verlauf auflösen, birgt das kommende Jahr eine positive Überraschung. Strukturell sehen wir eine doppelte Investitionslücke: bei den privaten wie bei den öffentlichen Investitionen. So wird der Wandel zur Klimaneutralität nicht gelingen.

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