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Michael Hüther im Reutlinger General-Anzeiger Interview 7. Februar 2014

"Dürfen uns nicht einlullen lassen"

Grundlage der Erfolge auf dem Arbeitsmarkt waren eine moderate Lohnpolitik, mehr Flexibilität für die Betrieben und die Reformen von Gerhard Schröder, sagt IW-Direktor Michael Hüther im Interview mit dem Reutlinger General-Anzeiger. Die so erreichte Wettbewerbsfähigkeit zu wahren erfordert jedoch weitere Anstrengungen.

Alles was Arbeit schafft, ist gut, ist ein oft gehörter Satz in der Wirtschaft und in der Politik. Deutschland hat hier neue Rekordmarken gesetzt. Geht das so gut weiter?

Es gibt für eine Fortschreibung keine Gewähr. Denn es gehören ja Voraussetzungen dazu. Grundlagen für die Erfolge waren die moderate Lohnpolitik seit den 90er-Jahren, eine Flexibilisierung in den Betrieben (Stichwort Pforzheimer Tarifabschluss in 2004), Einführung von Arbeitszeitkonten. Generell gab es ein hohes Maß an Reaktionsflexibilität in den Unternehmen. Nicht zu vergessen die Hartz-IV-Reformen von Gerhard Schröder. Im Krisenjahr 2009 kam das alles Deutschland sehr entgegen. Hinzu kommt, Unternehmen haben aus Deutschland heraus Auslandsstandorte für sich genutzt und damit auch die Wettbewerbsfähigkeit in Deutschland gestärkt.

Das ist ja alles nicht verloren?

Die internationale Wettbewerbsfähigkeit ist eine dauerhafte Anstrengung. Wir erleben ja im Moment eine Herauskristallisierung von neuen Formen der Wertschöpfung, Stichwort Industrie 4.0. Das ist die Steigerung der bisherigen hybriden Wertschöpfung, also die Kombination von Industrie und Dienstleistungen. Die nächste Stufe ist jetzt, die Verbindung der Industrie mit den Kunden so zu nutzen, dass der Informationskreislauf automatisiert wird. Ich erfahre zum Beispiel als Unternehmer, wie der Kunde meine Maschinen nutzt. Das sind enorme Herausforderungen, die aber gerade von den Deutschen angenommen und gelöst werden können.

Beschäftigungsrekord ist das eine, ein hohes Ausmaß an prekärer Beschäftigung das andere. Wie gehen Sie mit diesem Einwand um?

Die Frage ist doch, hat hier eine Umwandlung von Normalarbeitsverhältnissen stattgefunden oder ist das Ausdruck der Tatsache, dass heute Menschen eine Beschäftigung haben, die vor einigen Jahren am Arbeitsmarkt gar nicht präsent waren? Wenn wir uns die Analyse anschauen, sieht man eindeutig, dass fünf Prozent der Erwerbspersonen mehr Beschäftigung haben. Die waren vorher arbeitslos oder in der sogenannten Stillen Reserve. Noch mal – es gibt keinen empirischen Befund, dass normale Arbeitsverhältnisse in nennenswertem Umfang umgewandelt worden sind. Die neuesten Zahlen der Bundesanstalt für Arbeit zeigen, dass das Aufstockerthema nicht relevant ist. Es sind 46 000 Alleinstehende, die in Vollzeit arbeiten und aufstocken. Nur für die wird der Mindestlohn von 8,50 Euro überhaupt relevant.

Vernichtet der Mindestlohn Arbeitsplätze?

Der Mindestlohn ist zumindest kein großes Investitionshemmnis. Das Problem ist, dass es Menschen mit Handicaps gibt, die schwer in den Arbeitsmarkt hineinkommen. Deren Beschäftigungschancen vermindert der Mindestlohn. Natürlich gehen unter den 5,7 Millionen Menschen, die weniger verdienen, Arbeitsplätze verloren. Auf eine Zahl will ich mich nicht festlegen. Eines füge ich aber noch hinzu: Er passt nicht in unser System der Lohnverhandlungen.

Können Sie denn mit dem Satz "gleicher Lohn für gleiche Arbeit" etwas anfangen?

Der hat natürlich etwas für sich. Aus der gleichen Arbeit kann aber ein unterschiedliches Produkt resultieren. Nehmen Sie einen Elektromechaniker in einer chemischen Produktion und einen Elektromechaniker in der Metallindustrie – schon haben sie unterschiedliche Löhne allein aufgrund des Tarifvertrages. Letztlich wird die Arbeitsstunde nicht durch den Arbeitgeber, sondern durch den Kunden, der das Produkt kauft, bewertet.

Sie wissen genau, dass ich auf etwas anderes anspiele!

Wenn Sie auf die Zeitarbeit anspielen – Korrekturen wurden gemacht. Nach 18 Monaten bekommt der Zeitarbeiter den gleichen Lohn. Nur, wir wissen, dass drei Viertel der Zeitarbeiter nicht länger als neun bis zehn Monate im selben Betrieb sind. Die jetzt praktizierte Einsteuerung durch die Tarifverträge finde ich in Ordnung. Zeitarbeit hat zwei Dimensionen – das Abdecken von Spitzen und Projekte. Was nicht geht, ist ein rigides Befristungsrecht und beschränkte Zeitarbeit. Irgendwie muss die Anpassung organisiert sein. Niemand muss Arbeitsplätze schaffen.

Sie lassen keine Gelegenheit aus, für eine qualifizierte Zuwanderung zu plädieren. Ist es europäische Solidarität, wenn beispielsweise Rumänien in den vergangenen Jahren 15 000 Ärzte ausgebildet hat, die heute in anderen Ländern arbeiten und dort Steuern zahlen.

Europa heißt freie Wanderung des Faktors Arbeit. Es gibt einen Ausgleichsmechanismus in freien Volkswirtschaften, die in einer schwierigen Situation sind. In Rumänien entsteht dann eben der Druck, für gute Standortbedingungen zu sorgen. Man kann nicht einem gemeinsamen Markt beitreten und dann sagen: Diese oder jene Regelung will ich nicht. Freiheitsrechte sind elementar. Im Übrigen – in vielen Fällen hängt doch ein Einkommenstransfer dran. Die Menschen schicken Geld in ihr Land. Das alles kennen wir doch von der Geschichte der europäischen Integration. Wir dürfen aber nicht so naiv sein und denken, die Osteuropäer kämen alle zu uns. Wir müssen attraktiv werden für die Welt insgesamt.

Kommen wir über die demografische Entwicklung (weniger Erwerbstätige) mehr oder weniger zur Vollbeschäftigung?

Es gibt kein Gesetz, dass eine sinkende Bevölkerung zur Vollbeschäftigung führt. Wir können in Deutschland beobachten, dass die Beschäftigung älterer Menschen stark zugenommen hat. Diese Tendenz hält an. Doch hätten wir nicht entsprechende Kompetenzen im Land, könnte auch Arbeitslosigkeit entstehen. Die Ausgangsbedingungen sind aber gut. Wir dürfen uns nur nicht einlullen lassen. Nicht unwichtig dabei ist ein funktionierendes Finanzsystem in Europa. Die Industrie braucht mittelfristig eine ordentliche Finanzierungsbegleitung für ihre internationalen Aktivitäten. Im Verhältnis Finanzwirtschaft und Industrie ist mir zu lange gegengeredet worden. Wir brauchen ein funktionierendes Bankensystem.

Viele Unternehmer sorgen sich um das Gelingen der Energiewende.

Es gibt eine große Gefährdung von Arbeitsplätzen. Energieintensive Betriebe halten schon seit dem Jahr 2000 ihren Kapitalstock nicht mehr aufrecht. Es wird einfach weniger investiert als es der Kapitalverzehr erfordert. Sind die energieintensiven Unternehmen aber weg, gehen auch, bedingt durch die starke Vernetzung in der Industrie, weitere Arbeitsplätze in anderen Bereichen verloren. Die geplante Feinsteuerung hat zu tun mit einer falsch verstandenen Industriepolitik.

Zum Interview auf der Internetseite des Reutlinger General-Anzeigers

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