1. Home
  2. Presse
  3. „Die Europa-Euphoriker sind die größte Gefahr”
Zeige Bild in Lightbox Euphoriker sind die größte Gefahr"
(© Foto: Aintschie - Fotolia)
Michael Hüther in der Welt Interview 8. November 2014

„Die Europa-Euphoriker sind die größte Gefahr”

IW-Direktor Michael Hüther warnt im Interview mit der Welt am Sonntag eindringlich vor weiteren Integrationsschritten in Europa. Ein europäischer Bundesstaat würde "unweigerlich zu einer Überforderung des Kontinents führen".

Herr Hüther, in Ihrem neuen Buch schreiben Sie, die deutsche Geschichte beginnt erst mit der deutschen Einheit. Ist das nicht ein bisschen übertrieben?

Sicher reicht die deutsche Geschichte weiter. Aber von innen getragen und von außen akzeptiert wird Deutschland als Nation erst seit 1990. Ich bin deshalb ein großer Anhänger der These, dass Deutschland eine "verspätete Nation" ist, die ihre Vollendung erst mit der deutschen Einheit gefunden hat.

Sie schreiben auch, Deutschlands wirtschaftliche Stärke liege gerade darin begründet, dass die Bundesrepublik bis 1990 keine Nation war. Das müssen Sie erklären.

Das 1871 gegründete Deutsche Reich war eine Kunstprägung, ohne jede innere identitätsstiftende Kraft. Das Bürgertum hat sich deshalb mit einer Begeisterung auf Technik und Wissenschaft gestürzt wie in keinem anderen Land. Daraus zieht die Industrie bis heute ihre Kraft. Ebenfalls prägend für das Deutsche Reich war die Kleinstaaterei. Die Fürsten waren ihren Untertanen nahe, haben eigene Standortpolitik betrieben. Dadurch sind in den 35 Staaten des Deutschen Reiches regionale Netzwerke entstanden, die ebenfalls bis heute eine große Stärke der deutschen Wirtschaft sind.

Na ein Glück, dass wir heute noch 16 Bundesländer haben …

Nein. Im Deutschen Bund gab es einen Wettbewerbsföderalismus, in der Bundesrepublik ist im Föderalismus Wettbewerb weitgehend ausgeschaltet.

Deutschland gilt international als wirtschaftlicher Musterknabe. Können andere Staaten überhaupt etwas von Deutschland lernen, wenn die Wirtschaftsstrukturen historisch gewachsen sind?

Deutschland kann nur bedingt ein Vorbild für andere sein. Andernfalls müsste beispielsweise die duale Berufsausbildung ein Exportschlager sein, ist sie aber nicht. In den 80er-Jahren ist Spanien daran gescheitert, dieses Modell zu übernehmen, weil die Unternehmen nicht die nötige Einstellung hatten, dass sie dafür auch in Werkstätten und Fortbildung ihrer Beschäftigten investieren müssen. Länder sind sehr viel stärker in ihren Traditionen verankert als dass sie Möglichkeiten ergreifen, die andere Gesellschaften ihnen bieten.

Die Vollendung als Nation definiert die Rolle der Bundesrepublik in Europa neu. Kann Deutschland mit seiner belasteten Geschichte überhaupt die Führungsrolle einnehmen?

Natürlich geht das nicht ganz ohne Konflikte, wie wir in der Staatsschuldenkrise gesehen haben. Aber Deutschland ist mit seiner Geschichte verantwortungsvoll umgegangen. So findet unsere Erinnerungskultur weltweit großen Respekt. Deutschland muss seine Stärke für Europa einbringen, und das fordern andere Länder ja auch ein.

Leitet sich dieser Führungsanspruch nur aus der ökonomischen Stärke ab?

Nein, sondern aus der ausgesprochen starken Bürgerlichkeit. Aber ohne ökonomische Stärke wird es natürlich mühsam, dieser Führungsrolle gerecht zu werden.

Führt Deutschlands belastete Geschichte zu der Gefahr, aus schlechtem Gewissen Dinge in Europa mitzumachen, die großen Schaden anrichten, wie etwa die zu frühe Aufnahme von Ländern in die Euro-Zone?

Es gibt Strömungen in Deutschland die meinen, wir könnten die deutsche Nation nur erträglich machen, wenn wir sie in Europa auflösen. Auch das neue Buch von Helmut Kohl atmet diesen Geist. Aber Europa legitimiert sich nicht aus der Auflösung der Nationen, sondern aus den Nationalstaaten heraus. Nationen haben immer zwei Seiten: die Negative, die ins Autoritäre und ins Militärische abdriftet wie im 19. Jahrhundert. Und eine Positive: die Suche nach Selbstbestimmung, Freiheit, Souveränität. Wir haben die Chance, ein Europa der Nationen in diesem positiven Sinn zu entwickeln. Eine europäische Verteidigungsgemeinschaft wäre etwa ein Schritt in diese Richtung.

Fürchten Sie nicht, mit Ihrer Betonung auf die Nationalstaaten Rechtspopulisten wie der AfD Aufwind zu geben?

Ein Argument wird nicht dadurch fragwürdig, dass es auch Wirrköpfe aufnehmen, die es in der AfD zweifelsohne gibt. Ganz im Gegenteil dürfen wir denen diese Debatte nicht überlassen.

Schlägt das Pendel aber nicht gerade zu stark in Richtung Nationalstaat aus, wie die Separatisten-Bewegungen in Schottland und Spanien zeigen oder die Debatte um einen EU-Austritt Großbritanniens?

Nein. In Schottland ist die Volksabstimmung für eine Abspaltung von Großbritannien gescheitert. Spanien ist ein Sonderfall, ein Zentralstaat mit föderaler Fiktion. Die Debatte in England ist spannender, auch weil sie anders gelagert ist: Hier zeigt sich, dass sich einige Fragen in Europa neu stellen. Wenn wie von Frau Merkel die einzige Reaktion darauf ist, an den Austritt dieses Mitglieds zu denken, können wir uns von Europa schnell verabschieden. Die Geschäftsbedingungen des europäischen Clubs von 1957 sind doch nicht unabänderlich.

Wie soll es denn mit Europa weitergehen? Brauchen wir einen europäischen Finanzminister oder ein Europa nach Schweizer Vorbild?

Das sind Ideen, die keine praktische Relevanz bekommen werden. Niemand in Europa und vor allem kein nationales Parlament wird akzeptieren, dass Finanzpolitik von Brüssel aus gemacht wird. Schon die jetzige Kompetenzverlagerung nach Brüssel ist grenzwertig, wie das Bundesverfassungsgericht aufgezeigt hat.

Behaupten Sie ernsthaft, bis auf eine Verteidigungsarmee sind keine weiteren Integrationsschritte nötig?

Die euphorischen Europäer tun Europa nicht zwingend gut. Es gibt doch keinen Automatismus, dass Europa in einem Bundesstaat münden muss. Das würde unweigerlich zu einer Überforderung des Kontinents führen. Es ist eine unrealistische Vorstellung zu glauben, Europa müsse sich immer weiterentwickeln. Die Amerikaner ändern doch auch nicht ständig ihre Verfassung.

Die Europäer haben nicht mal eine.

Aber die USA sind dennoch kein stärker integrierter Wirtschaftsraum als Europa. Washington ist fern, die US-Bundesstaaten können eigene Steuern erheben, teilweise können Sie in den USA anders als in Europa nicht mal ihre Krankenversicherung von einem Staat mit zum anderen nehmen. Europa hat eine entscheidende Lektion gelernt: Der nächste logische Schritt nach der Währungsunion ist nicht die politische Union, sondern die jetzt beginnende Bankenunion. Das heißt nicht, den Währungsraum nicht fortentwickeln zu können über gemeinsame europäische Netze, eine gemeinsame Infrastruktur oder gemeinsame Wertschöpfungsketten. Aber dazu müssen wir keinen Bundesstaat schaffen.

Kann ein Europa der Nationen im internationalen Wettbewerb überhaupt bestehen?

Absolut. Die USA sind – wie beschrieben – nicht viel einheitlicher organisiert. Und China steht vor der Frage, ob sich 1,4 Milliarden Menschen zentral von Peking aus steuern lassen oder ob eine Dezentralisierung der politischen Steuerung nicht zwingend ist.

Wenn Deutschland heute eine vollendete Nation ist: Sind es die Deutschen denn auch gefühlt?

Wir sind da weit vorangekommen. Anders als vor zehn Jahren nehmen sich Berliner nicht mehr als Ost- und West-Berliner, sondern nur noch als Berliner wahr. Wir haben eine Zuwanderung in die neuen Bundesländer. Und es gibt inzwischen weniger ein Wohlstandsgefälle zwischen Ost und West als zwischen Stadt und Land. 25 Jahre nach dem Mauerfall können wir feststellen: Die Deutschen in Ost und West haben eine gemeinsame Perspektive entwickelt.

Das Interview auf welt.de

Mehr zum Thema

Artikel lesen
Zwischen Sicherheitspolitik, Green Deal und Wettbewerbsfähigkeit – eine europapolitische Bestandsaufnahme
Knut Bergmann Veranstaltung 24. April 2024

Berliner Gespräche Frühjahrstagung: Zwischen Sicherheitspolitik, Green Deal und Wettbewerbsfähigkeit – eine europapolitische Bestandsaufnahme

Das Institut der deutschen Wirtschaft möchte Sie erneut zu einer virtuellen Variante der „Berliner Gespräche” einladen.

IW

Artikel lesen
Michael Hüther im Handelsblatt-Podcast Audio 19. April 2024

Die Zukunft Europas: Welche Prioritäten sind für die Wettbewerbsfähigkeit entscheidend?

Die Europäische Union hat ihre neue strategische Agenda für die Jahre 2024 bis 2029 veröffentlicht. IW-Direktor Michael Hüther und HRI-Präsident Bert Rürup analysieren im Handelsblatt-Podcast „Economic Challenges” die Bedeutung der Wettbewerbsfähigkeit für die ...

IW

Mehr zum Thema

Inhaltselement mit der ID 8880