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IW-Direktor Michael Hüther
Michael Hüther in der Welt am Sonntag Interview 9. April 2022

Gasembargo: „Das bedeutet zweieinhalb Jahre Stillstand”

Kann Deutschland auf russisches Gas verzichten? Führende Ökonomen streiten heftig über die Folgen eines Embargos. Ein Streitgespräch zwischen IW-Direktor Michael Hüther und Jan Schnellenbach.

Herr Hüther, Herr Schnellenbach, können wir uns ein Gasembargo leisten? 

Michael Hüther: Ein Ölembargo wäre in überschaubarer Zeit machbar. Bei Gas haben wir aber ganz andere Voraussetzungen: Zwei Drittel bis drei Viertel des Gases werden zur Wärmeerzeugung verwendet, man kann es also nicht einfach durch länger laufende Atom- oder Kohlekraftwerke ersetzen. In der Industrie wird das Gas nicht nur zur Stromerzeugung eingesetzt, sondern auch als Prozesswärme und als Teil der zu produzierenden Güter, etwa beim Dünger. Deswegen kann man es nur in geringem Umfang ersetzen. Aus dieser Gemengelage ergeben sich vollkommen andere Kaskadeneffekte und Wirkungen auf die Volkswirtschaft als bei Kohle oder Öl. Deshalb warne ich vor einem abrupten Gasembargo, das würde in zentralen Bereichen zweieinhalb Jahre Produktionsstillstand bedeuten samt entsprechender Durchwirkung auf weite Teile der Industrie.

Herr Schnellenbach, warum fordern Sie ein sofortiges Gasembargo? 

Jan Schnellenbach: Wir können uns darauf einigen, dass wir ein Öl- und Kohleembargo relativ schnell verhängen könnten. Beim Gas haben wir einen Dissens. Es gibt inzwischen einige makroökonomische Studien, die abschätzen, welche Folgen ein Lieferstopp für russisches Gas hätte. Die am meisten beachtete Berechnung kommt zu dem Ergebnis, dass man mit einer Verminderung des Bruttoinlandsprodukts um 0,3 bis drei Prozentpunkte rechnen muss. Andere Studien kommen auf Schätzungen von sechs Prozentpunkten. Ein Gasembargo hätte also einen großen, aber keinen katastrophalen Effekt. Das wäre eine schwere Rezession, aber weniger schlimm als bei Corona.

Trotz der Produktionsstillstände, die Herr Hüther prognostiziert? 

Schnellenbach: Bis zum Jahresende werden wir wohl 70 Prozent unseres Bedarfs ohne russisches Gas decken können. Bleibt also eine Lücke von 30 Prozent. Das ist eine Menge, aber führt das wirklich dazu, dass ausgerechnet die Industrien abgeschaltet werden müssen, die für unsere Lieferketten zentral sind? Ich denke, es gibt da durchaus Möglichkeiten, zu priorisieren und dafür zu sorgen, dass die wichtigen Industrien zwar nicht mit Volllast, aber doch zumindest auf einem akzeptablen Niveau weiterproduzieren können.

Hüther: Die Frage, ob wir mit irgendetwas leben können oder nicht, ist keine für die Ökonomen, denn es ist eine politische Kategorie. Ob ein Gasembargo möglich und handhabbar ist, ist keinem dieser Modelle zu entnehmen, die zudem Preiseffekte auf die Nachfrage und die Substitution durch andere Energieträger oder Produktionsweisen analysieren. Der Preis ist beim Embargo völlig irrelevant, wenn kein Gas mehr durch die Pipeline fließt. Sie haben gesagt: 30 Prozent fehlen. Der Anteil der Industrie am Gasverbrauch liegt bei 37 Prozent - es wäre also fast die gesamte Industrie betroffen, weil die privaten Haushalte nach geltendem Recht geschützt sind. Das heißt, es kommt zu einem Produktionsstillstand, das kann in dem Modell gar nicht abgebildet werden. Dritte Anmerkung, Herr Schnellenbach: Die Substitutionselastizität, die bemisst, wie viel und wie schnell russisches Gas ersetzt werden kann, ist in den einschlägigen Studien willkürlich gewählt. Das ist unvermeidbar, aber halt nicht viel mehr als ein Bauchgefühl der Kollegen.

Ist die Situation denn mit der Corona-Krise vergleichbar? 

Hüther: Wir haben es im Fall eines Gasstopps nicht mit Hotels und Gaststätten zu tun, die man heute schließt und morgen wieder aufmachen kann. In der Papiererzeugung, der Glasproduktion und bei Stahl sowie der Grundstoffchemie ist das so nicht möglich. Wenn man die abschaltet, gehen beispielsweise Glasschmelzwannen kaputt, mit halber Temperatur kann man sie erhalten, aber ohne Produktion. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass uns die Makroökonomie, der Blick nur auf die Gesamtwirtschaft, hier nicht weiterhilft - zumal die Folgen auf andere Industrien nicht hinreichend abgebildet werden können. Die Grundstoffchemie ist für Deutschland ein wesentlicher Standortfaktor, da sind wir weltweit führend. Die Kollegen haben gesagt, wenn wir das nicht mehr selbst produzieren könnten, dann würden wir das halt importieren. Ja, woher denn? Aus China? Selbst wenn das ginge, wäre das dann eine neue Abhängigkeit. Wenn die Produktion ein Jahr oder länger stillsteht, dann ist das eine Situation, die man nicht mehr mit Kurzarbeitergeld und Subventionen lösen kann. Es wäre das Ende der Grundstoffproduktion in Deutschland.

Das ist das Argument von Kanzler Olaf Scholz, dass die Wirklichkeit zu komplex für Modelle ist. Hat er da nicht recht, Herr Schnellenbach? 

Schnellenbach: Man kann nicht einfach sagen, dass die Modelle nichts taugen und wir uns darauf verlassen, was uns Praktiker erzählen. Die haben schließlich auch ihre Interessen. Und natürlich ist es ein politisches Werturteil, wenn man sagt, dass eine Rezession zwischen 0,3 und sechs Prozent erträglich wäre angesichts der außenpolitischen Herausforderungen, vor denen wir stehen. Aber wir können vor dem Hintergrund der jüngsten historischen Erfahrungen mit der Pandemie schon etwas darüber sagen, ob wir das gesellschaftlich und gesamtwirtschaftlich aushalten können. Was den Produktionsstillstand angeht: Sicher, wir haben Regeln, nach denen im Moment die privaten Haushalte Priorität haben. Aber in einer Extremsituation wie dieser müsste darüber geredet werden, ob nicht diejenigen Industriebereiche, die besonders zentral für die Lieferketten sind, priorisiert versorgt werden sollen. Zu unterstellen, dass die Gaslücke komplett durch eine Totalabschaltung der Industrie geschlossen wird, ist tatsächlich unterkomplex.

Also frieren für die Lieferketten? 

Hüther: Natürlich könnte man im privaten Haushalt den berühmten dicken Pullover tragen. Aber es gibt nun mal diese Abschaltregeln. Der Corona-Vergleich übrigens überzeugt mich auch aus einem weiteren Grund nicht. Für die Industrie gab es nur für vier Wochen einen Shutdown ganz zu Beginn der Pandemie. Schon das hat lange nachgewirkt, obwohl die Grundstoffproduktion nicht betroffen war. Ansonsten war, wie gesagt, primär der Sozialkonsum, also Restaurants, Hotels, der Kulturbetrieb und Ähnliches, betroffen. Heute reden wir über einen völlig anderen Zeitraum und mit der Industrie über völlig andere Betroffene.

Schnellenbach: Zu sagen, bei Corona ging es ja nur um die billigen Dienstleistungen, jetzt geht es um unsere Industrie, dahinter steckt ja auch die deutsche Neigung, der Industrie besonders große Bedeutung beizumessen. In der Pandemie waren zwei- bis dreimal so viele Jobs direkt betroffen wie bei einem Gasstopp.

Hüther: Ketteneffekte würden in Gang gesetzt, wenn es zu einer Unterversorgung der Industrie kommt. Man muss das deutsche Geschäftsmodell in den Blick nehmen und verstehen wollen. Wenn ich in der Industrie einen Stillstand habe, den ich nicht in überschaubarer Zeit korrigieren kann und der in Teilen - bei der Chemie zum Beispiel - irreversibel sein könnte, dann ist das etwas anderes als in der Pandemie.

Bislang versucht die Politik, die steigenden Energiekosten für die privaten Haushalte abzufedern. Müssten die Preise eigentlich steigen, um die richtigen Signale zu setzen? 

Schnellenbach: Natürlich müssten arme Haushalte kompensiert werden für die Wohlstandsverluste, die sie hinnehmen müssen, wenn jetzt die Energiepreise drastisch ansteigen. Ob sie dann ihre zusätzlichen Einkommensspielräume tatsächlich nutzen, um die Wohnungen wieder auf 24 Grad zu heizen, ist eine Frage, die simple Mikroökonomik eher verneinen würde. Sie würden Transfers zumindest teilweise auch für andere Dinge ausgeben, die Wohnung etwas kälter lassen und so Gas einsparen.

Hüther: Die Leute haben sich darauf eingestellt, dass sie ihre Gasheizungen noch lange nutzen können. Da besteht wirklich nur die Möglichkeit, am Thermostat zu drehen. Ich glaube nicht, dass das eine politisch tragfähige Diskussion ist. Dafür muss man ja auch die Frage stellen: Was erreicht man eigentlich mit den Sanktionen? Formaljuristisch betrachtet, sollen sie einen Bruch des Völkerrechts sanktionieren. Politisch, den Krieg möglichst schnell beenden. Und da ist meine Hoffnung eher begrenzt. Was Putin als Investitionskapital für diesen Krieg braucht, hat er in den letzten zehn Jahren eingenommen. Einige Kollegen tun so, als sei das ein Automatismus, dass man Gassanktionen einführt und damit Putin in die Knie gezwungen ist. Ich würde mir das auch wünschen, bin da aber pessimistisch.

Schnellenbach: Ich halte es für ein Strohmann-Argument zu sagen, die Sanktionen müssten den Krieg sofort beenden, damit ein hartes Embargo lohnt. Niemand, der ein hartes Embargo befürwortet, geht davon aus, dass dann gleich am nächsten Tag die Panzer stehen bleiben. Das ist aber auch eine Bedingung, mit der man alle Sanktionen ablehnen kann. Warum jetzt ausgerechnet hier dieser Maßstab so hoch angesetzt wird, das konnte bisher noch niemand erklären.

Hüther: Weil wir Zeitdruck haben.

Schnellenbach: Wir haben Zeitdruck, weil wir Russland relativ schnell von Ressourcen abschneiden wollen. Falls das Umdenken im Kreml dann länger dauert, ist es dennoch nicht rational, den Beginn länger hinauszuzögern. Prokrastinieren ist niemals rational. Für uns wird es mit der Zeit immer leichter, diese Sanktionen durchzuhalten, weil wir immer unabhängiger werden von russischem Gas. Für die Russen wird es immer schwieriger, je länger sie von Ressourcenströmen abgetrennt werden. Russland ist nicht autark. Natürlich kann Putin Rubel drucken lassen, aber das führt zu hoher Inflation. Solange es die Energieexporte gibt, hat Putin nach innen auch noch eine Verteilungsmasse, die ihm Loyalität sichert. Sanktionen untergraben auch seine Machtbasis.

Hüther: Irrational ist es, sich selbst fundamental zu schädigen. Und man muss auch über den Tag hinausdenken: Was passiert, wenn der Krieg irgendwann ein Ende findet? Wie handlungsfähig sind wir als Europa dann noch? Man kann nicht ignorieren, dass ein solches Embargo ein erheblicher Eingriff ins deutsche Geschäftsmodell wäre. Ich sehe auch kein anderes Land in der Welt, das vergleichbare Risiken eingehen würde, weil kein Land dieses Geschäftsmodell hat. Natürlich kann man argumentieren, dass wir eine besondere moralische Verantwortung haben. Aber als Ökonomen sollten wir wenigstens alle Facetten der Wirkungsketten beleuchten.

Die ökonomischen Argumente haben Sie jetzt ausgetauscht, aber Sie sind beide auch politische Menschen mit moralischen Maßstäben. Unterm Strich: Sollten wir das Gasembargo nun verhängen? 

Schnellenbach: Ich bin uneingeschränkt und so schnell wie möglich für ein Gasembargo. Wir haben eine politische Pflicht, alles zu versuchen, um diesen Krieg so schnell wie möglich zu beenden. Es gibt eine nicht kleine Wahrscheinlichkeit, dass ein vollständiges Embargo Russland zum Umdenken bringen kann und Russland die Möglichkeiten nehmen kann, diesen Krieg effektiv zu führen. Wenn es diese Wahrscheinlichkeit gibt, haben wir die politische und moralische Pflicht, überschaubare und tragbare Kosten hinzunehmen, die wir uns mit unserer Außen- und Energiepolitik der letzten Jahrzehnte ja auch wesentlich selbst eingebrockt haben. Wenn man in der Geschichte zurückschaut, welche Opfer andere Länder gebracht haben, damit wir in Deutschland ein relativ freies, demokratisches Leben führen können, dann können wir jetzt auch gewisse überschaubare Opfer bringen.

Hüther: Damit können Sie letztlich alles begründen, aber als moderne Ökonomen sind wir nicht zum Moralphilosophen berufen, sondern zur nüchternen Analyse. Also: Ich bin gegen ein abruptes Gasembargo, weil es erhebliche wirtschaftliche Konsequenzen haben wird. Da sind wir schnell bei zweieinhalb oder drei Millionen zusätzlichen Arbeitslosen. Das muss mitbedacht werden. Unserer Verantwortung würden wir eher gerecht, wenn wir nicht so zögerlich wären bei der Bereitstellung von militärischer Ausrüstung. Dass die Anfragen für Waffenexporte im Verteidigungsministerium hängen, das kostet uns Reputation, nicht dass wir daran denken, unser eigenes Geschäftsmodell handlungsfähig zu halten.

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