Der IW-Wirtschaftsethiker Dominik Enste spricht im Interview mit der Frankfurter Rundschau über die finanziellen Sorgen vieler Leute, die Einflussmöglichkeiten jedes Einzelnen und die eine Sache, an die Menschen sich niemals gewöhnen.
„Aus Angst kann man neue, viel größere Risiken schaffen”
Im Gespräch mit Dominik Enste geht es viel um das Thema Angst. Und doch endet das Telefonat mit dem auf Wirtschaftsethik und Verhaltensökonomie spezialisierten Wissenschaftler beruhigend. Denn eines wird im Verlauf des Interviews klar: Enste ist trotz aller Probleme optimistisch, was die wirtschaftliche Zukunft Deutschlands angeht.
Herr Enste, erst Corona, dann der Ukraine-Krieg, dazu noch Negativzinsen bei Banken, eine Inflation, wie wir sie seit 40 Jahren in Deutschland nicht hatten, und die dauerhafte Bedrohung durch den Klimawandel. Mein Eindruck aus Gesprächen ist, dass viele Menschen derzeit wirtschaftliche Ängste haben, wie sie sie noch nie erlebt haben. Teilen Sie diesen Eindruck?
Es ist offensichtlich, dass eine Situation, wie wir sie jetzt haben, mit einem Krieg mitten in Europa, existenzielle Ängste auslöst. Und zwar noch deutlich stärkere als das unsichtbare Virus, das uns die vergangenen zwei Jahre beschäftigt hat. In der Corona-Pandemie hat die Politik suggeriert, dass wir das in den Griff bekommen können. Und das ist ja mit Impfungen und Verhaltensänderungen auch recht gut gelungen. Bilder wie aus Bergamo oder New York sind uns hier erspart geblieben. Durch das Kurzarbeitergeld und andere Staatshilfen konnten zudem für viele Menschen wirtschaftliche Schäden weitgehend ausgeglichen werden. Außerdem wurde betont: Wir versuchen, jedes Menschenleben zu retten. Das ist in der Ukraine anders.
Was konkret meinen Sie?
Die Ukrainer und Ukrainerinnen setzen ihr Leben aufs Spiel für einen für sie höheren Wert: ihre Freiheit. Außerdem spüren wir in Deutschland: Angesichts der atomaren Bedrohung fühlen wir uns hilflos. Putin hat die Möglichkeit, die Welt mit einem Krieg zu überziehen. In der Pandemie hatten wir das Gefühl, dass unsere Handlungsfähigkeit zumindest teilweise erhalten bleibt. Vor allem konnte jeder Einzelne etwas tun: Wir konnten die Hände waschen und desinfizieren, eine Maske aufsetzen oder uns zu Hause einschließen, um dem Virus zu entkommen. Der Ukraine-Krieg dagegen bedeutet den fast völligen Kontrollverlust, und das ängstigt Menschen besonders. Individuell kann man spenden und Flüchtlinge aufnehmen, was ja auch viele tun. Aber gegen die militärische Drohung können Einzelne nichts tun.
Glauben Sie, dass ältere Menschen besser mit dieser Situation umgehen können, weil sie einiges oder sogar alles davon – den Zweiten Weltkrieg, den Kalten Krieg, eine hohe Inflation – schon erlebt haben?
Einige vielleicht schon, aber in der Regel erinnern sich Menschen weniger daran, was vor zwanzig, dreißig oder fünfzig Jahren war. Wenn, werden eher schlimme Erinnerungen geweckt. Und der Vergleich mit den letzten Jahrzehnten mit gefühlt ewigem Frieden und ebensolcher Prosperität ist für alle erschütternd.
Denken Sie denn, dass ärmere Menschen in Deutschland momentan vor allem angesichts der starken Inflation größere wirtschaftliche Ängste durchstehen als die Mittelschicht? Oder ist es eher – zynisch gesprochen – so, dass ärmere Menschen psychisch weniger leiden, weil sie das Gefühl gewohnt sind und weniger zu verlieren haben?
Ängste gibt es in allen Einkommensschichten. Klar ist, dass die rund 16 Prozent der deutschen Bevölkerung, die als armutsgefährdet gelten – also weniger als 60 Prozent des Medianeinkommens haben –, faktisch am meisten unter der Situation leiden. Ich bin kürzlich einer Frau im Supermarkt begegnet, die den Verkäufer nach den Möhren für 99 Cent fragte. Als er sagte, die gebe es nicht mehr, wirkte sie verzweifelt. Sie hatte einen Zettel dabei, wo sie aufgelistet hatte, in welchem Supermarkt es aktuell welche Grundnahrungsmittel besonders günstig gibt. Solche persönlichen Schicksale verdeutlichen die Sorgen für einzelne Bevölkerungsgruppen. Die Mittelschicht sorgt sich aber auch, denn sie hat viel zu verlieren. Solche Abstiegsängste gab es aber immer wieder mal.
Wann?
Immer wieder haben Medien in den vergangenen 15 Jahren berichtet, dass die deutsche Mittelschicht schrumpfe. Das stimmt so aber nicht, sie ist stabil geblieben. Nur werden negative Berichte stärker wahrgenommen. Das schürt Sorgen. Und da jeder in Deutschland zur Mittelschicht gehören möchte, sogar Friedrich Merz, gibt es diese Abstiegsängste. Untersuchungen meiner Kolleginnen haben allerdings gezeigt: Vielen Menschen geht es wie Friedrich Merz – sie halten sich für relativ ärmer, als sie sind, und wundern sich, wie gut sie im Vergleich zu anderen verdienen.
Nun sind die derzeitigen Sorgen aber doch durchaus berechtigt?
Ja, denn wir erleben eine historische Zäsur. Aber: Zurzeit geht es hierzulande oft mehr um Emotionen, nicht um Tatsachen. Es ist zwar schwierig, Sonnenblumenöl oder Mehl im Supermarkt zu bekommen, die Benzinpreise sind hoch – aber die Mittelschicht erleidet bislang flächendeckend noch keine realen Einschränkungen. Die Arbeitslosigkeit ist niedrig, es gibt keine Nahrungsmittelknappheit, und heizen können wir auch noch. Die Gefahr ist, dass die Sorgen sich selbst verstärken. Die Ängste werden zudem aus einer moralischen Komponente gespeist: Kaum jemand mag gerade sagen, dass ihn der Krieg – zumindest finanziell – nicht berührt und er daher unbeschwert in Urlaub fliegt. Die Moral gebietet uns mitzuleiden, gerade wenn wir wenig persönlich betroffen sind. Die Frage ist aber, wie die Menschen reagieren werden, wenn sie, etwa wegen eines Gasembargos, wirklich Einschränkungen hinnehmen müssen.
Sie meinen, dann ist es mit der Empathie schnell vorbei?
Die Regierung muss darauf achten, dass sie einen Mittelweg findet. Und das tut sie bislang sehr gut, finde ich. Tugendethisch ist es geboten, alles zu tun, was möglich ist, um Putin zu stoppen. Aber die Politik muss darauf achten, wie weit sie dabei geht. Die Auswirkungen dürfen bei uns nicht größer sein als bei Putin. Wenn die Inflation dauerhaft hoch bleibt, die Arbeitslosigkeit steigt und viele Menschen merken, dass sie für Güter des alltäglichen Gebrauchs weniger Geld haben, dann könnte sich die Stimmung gegen die Sanktionen und die Unterstützung der Ukraine wenden.
Die Spendenbereitschaft für die Ukraine ist bereits zurückgegangen …
Ja, es ist ein Gewöhnungseffekt eingetreten – so schrecklich das auch ist. Zugleich sorgt dieser Effekt dafür, dass wir uns an gewisse wirtschaftliche Bürden gewöhnen, etwa an einen hohen Benzinpreis. In einem Jahr wird das kein so drängendes Thema mehr sein. Die Lebenszufriedenheitsforschung zeigt, dass wir uns tatsächlich an vieles gewöhnen und wieder das alte Glücksniveau erreichen können. Dieser Gewöhnungseffekt trägt mit zur Überlebensfähigkeit von Gesellschaften bei. Das kann uns optimistisch stimmen. Das Einzige, an das sich Menschen nie gewöhnen, ist Arbeitslosigkeit. Die Lebenszufriedenheit sackt dann deutlich und dauerhaft ab. Aus dieser Perspektive sollte die Wirtschaftspolitik deshalb in Krisenzeiten vor allem darauf abzielen, Arbeitslosigkeit zu verhindern.
Sie sprachen vorhin von einer historischen Zäsur, die wir derzeit erleben. Können Sie das näher erläutern?
Allgemein herrscht doch Konsens, dass wir wirklich eine Zeitenwende erleben. Neben der Destabilisierung der Nach-Kalter-Krieg-Weltordnung durch den Krieg gibt es fünf Treiber der aktuellen großen gesellschaftlichen Transformation: die durch den Klimawandel nötige Dekarbonisierung, die fortschreitende Digitalisierung, den demografischen Wandel mit allen Problemen wie Fachkräfteengpässe, die er mit sich bringt, die durch die Corona-Pandemie verstärkte Deglobalisierung und die Gefährdung der Demokratie durch extreme Parteien und zunehmende Polarisierung politischer Debatten. Alle finden gleichzeitig statt. Da ist es schon nachvollziehbar, dass viele Menschen denken, krass, das ist viel auf einmal, und Ängste haben. Ich bin allerdings grundsätzlich Optimist. Vor allem aber kann man faktenbasiert sagen: Zu keinem Zeitpunkt war die Menschheit besser gerüstet, um mit all diesen Herausforderungen umzugehen, als jetzt.
Wie meinen Sie das?
Vor dreißig Jahren war die Armut in der Welt deutlich größer, es gab viel mehr Hungernde als jetzt. Es geht den meisten Menschen und Ländern heute deutlich besser als noch vor einigen Jahrzehnten. Die Welt ist jetzt eher bereit für mehr nachhaltiges Wirtschaften. Lassen Sie uns kurz nur auf Deutschland schauen: Wir hatten noch nie ein so hohes Bruttosozialprodukt wie jetzt. Wir sind seit 1950 in jedem Jahrzehnt durchschnittlich real, also inflationsbereinigt, jeweils umgerechnet rund 5000 Euro reicher geworden. Das Bruttosozialprodukt, der Wert an Waren und Dienstleistungen, liegt 2021 bei rund 43 000 Euro pro Kopf. Seit 1950 gab es hierzulande also etwa eine Versiebenfachung des materiellen Wohlstands und eine deutliche Steigerung der Lebenserwartung. Wir sind eines der reichsten Länder der Welt, unser Staat ist kreditwürdig, unsere Demokratie funktioniert. Auch ängstliche Menschen sollten daher sehen: Wir können bestimmte wirtschaftliche Rückschläge verkraften und dank der sozialen Errungenschaften für Bedürftige sorgen.
Was antworten Sie also den Menschen, die sagen: Unsere besten wirtschaftlichen Zeiten sind vorbei, nun geht es bergab?
Wir werden in Zukunft anders wirtschaften müssen, vor allem nachhaltiger. Aber das heißt nicht, dass es schlechter wird. Manche Herausforderungen sind unangenehm, Menschen mögen keine Veränderungen. Aber Deutschland hat in der Vergangenheit immer wieder bewiesen, dass es ein Innovationsstandort ist und sich im internationalen Vergleich gut schlägt. Wir befinden uns derzeit gewissermaßen in einer schnelleren Phase des Flusses, in einer Stromschnelle. Aber irgendwann wird es wieder ruhiger werden.
Sie sprachen anfangs davon, dass Menschen mit dem Kontrollverlust, den sie durch den Krieg derzeit erleben, nicht gut umgehen können. Was können sie denn jetzt selbst tun, um diese Kontrolle zurückzuerlangen?
Es darf nicht zu einem Teufelskreis kommen. Es ist auch für die Ukraine und Europa insgesamt wichtig, dass Deutschland wirtschaftlich stabil bleibt. Die Gefahr sind sich selbst erfüllende Prophezeiungen. Dass etwa Unternehmen aus Angst vor einem Abschwung nicht mehr investieren, was dann erst recht zum Abschwung führt. Oder dass Menschen in Panik ihr ganzes Geld von der Bank abheben, es ihren Freunden erzählen – und die es dann auch alle machen. Dann haben wir einen Banken-Run, und erst so entsteht dann aus Panik die nächste Finanzkrise. Mit dem Hamstern von Lebensmitteln sehen wir schon im Kleinen solche Paniktendenzen: Mehl und Sonnenblumenöl müssten überhaupt nicht knapp sein, wenn die Leute vernünftig handeln würden.
Was kann jede und jeder Einzelne tun?
Wünschenswert wäre zu schauen, wo jeder selbstwirksam handeln kann und so die Kontrolle über Bereiche behält, die nicht von der Krise betroffen sind. Vernunftbasierte Entscheidungen und kluges Handeln tragen dann zur Stabilisierung auch der Wirtschaft bei. Und was die Leute auch oft übersehen: Aus Angst kann man neue, viel größere Risiken schaffen. Das hat sich zum Beispiel nach dem Anschlag auf das World Trade Center gezeigt: Die Amerikaner hatten in der Folge Angst zu fliegen und sind mehr Auto gefahren. Da das aber viel gefährlicher als fliegen ist, gab es deutlich mehr Verkehrstote, als wenn die Menschen weiterhin geflogen wären. Wenn man sich nun heute aus Angst vor einem Engpass oder steigenden Preisen die ganze Garage mit Benzin vollstellt, dann erhöht man durchaus die Gefahr, dass Haus und Hof in die Luft fliegen.
Hier geht es zum Interview in der Frankfurter Rundschau.
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