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Michael Hüther Gastbeitrag 19. Juni 2008

Stolz und Vorurteil

Ludwig Erhard setzte sich mit einer Entschlossenheit gegen öffentliche Ressentiments durch, die heute fehlt.

Heute vor sechzig Jahren traten das Emissionsgesetz und das Währungsgesetz in Kraft. Das erste übertrug der Bank Deutscher Länder das ausschließliche Recht zur Ausgabe von Banknoten, das zweite bestimmte die Deutsche Mark zur Währung und regelte die Auszahlung. Zwei Tage zuvor hatte der Wirtschaftsrat das „Gesetz über Leitsätze für die Bewirtschaftung und Preispolitik nach der Geldreform“ verabschiedet. Damit konnte Ludwig Erhard als Direktor der Verwaltung für Wirtschaft für den 21. Juni die Bewirtschaftung weitgehend lockern und die Preiskontrollen aufheben.

Was sich wie ein schlichter administrativer Vorgang liest, war politisch höchst gewagt und in vielfacher Hinsicht bemerkenswert. Es ruft deshalb in regelmäßigen Abständen ebenso Stolz hervor, wie es auch Vorurteile belebt.

Der Blick auf die Entstehung der Sozialen Marktwirtschaft ist für die Bürger, aber auch in Politik und Medien meist verklärt. Zudem steht dabei heute meist das Soziale im Vordergrund, nicht das vorrangige Bekenntnis zur Freiheit.

Keine Diskussion vergeht, wo nicht selbst ernannte Hüter des Erhard'schen Erbes jede Veränderung mit dem Hinweis abwehren, diese widerspreche dem Geist der Sozialen Marktwirtschaft. Es ist deshalb der Mühe wert, die Bedingungen für Erhards Handeln zu rekapitulieren.

Der ökonomische Zusammenbruch Deutschlands nach 1945 war dramatisch. Aufgrund von Krieg und Besatzung herrschten Ungewissheit und Apathie. Die seit 1936 laufende Vorbereitung auf den Krieg, die Kriegswirtschaft sowie der allgemeine Preis- und Lohnstopp hatten das Wirtschaftssystem grundlegend geschwächt. Die Einbindung in die internationale Arbeitsteilung war weitgehend aufgehoben. Der in einem Rechtsstaat geltende Zusammenhang von Kompetenz und Haftung war umfassend zerrüttet.

Politisch wirkte auch die Weltwirtschaftskrise von 1929 nach. Die Doktrin des Laissez-faire galt als kompromittiert, man suchte mit einem „liberalen Interventionismus“ der „Versumpfung des Kapitalismus“ – so Walter Eucken – entgegenzuwirken. „Der neue Liberalismus jedenfalls“, schrieb Alexander Rüstow, „der heute vertretbar ist, fordert einen starken Staat, einen Staat oberhalb der Wirtschaft, oberhalb der Interessen, da, wo er hingehört.“

Doch Erfahrungen, die in Politik und Gesellschaft Überzeugungskraft hätten entfalten können, gab es auf dieser Grundlage nicht. Aus beiden Zusammenhängen folgt, dass es in der öffentlichen Wahrnehmung keinen Bezugspunkt gab, der für den wirtschaftspolitischen Neubeginn taugte. Selbst die sozialistische Doktrin war, solange der Zusammenhang zu einer bestimmten Regierungsform nicht offenkundig war oder zwingend erschien, allenfalls naiv emotional attraktiv. Jedenfalls mussten die Wirtschaftspolitiker den Mut zu wahren Experimenten haben. Allein der Glaube an die verantwortete Freiheit begründete dafür positive Wirkungserwartungen.

So umstritten bereits die Entscheidungen Erhards waren, der eigentliche Konflikt um die Wirtschaftsordnung entbrannte erst danach. Die Preisfreigabe führte zu einer völlig neuen Abstimmung von Angebot und Nachfrage. Viele Geschäfte waren bald leer gekauft, was die Konsumenten zu weiteren Käufen trieb. Bei einem lokalen Nachfrageüberhang bemühten sich Anbieter, die Waren schnellstmöglich zu besorgen oder gar selbst zu basteln. Die Preise entwickelten sich dementsprechend unvorhersehbar, teils widersprüchlich und extrem.

Das Warensortiment war oft noch von Zufälligkeiten geprägt, der überregionale Warenhandel lief nur schleppend an. Bald erschreckten die Preissteigerungen weite Bevölkerungsteile, die sich von der neuen D-Mark Stabilität erhofft hatten. Die Gewerkschaften reagierten darauf am 12. November 1948 mit einem Generalstreik, dem einige Millionen Arbeitnehmer folgten, und forderten das Ausrufen des wirtschaftlichen Notstandes, die Einsetzung eines Preiskommissars, die Lenkung der Rohstoffe und Kredite – kurz gesagt, die Einführung einer Planwirtschaft.

Als die Preisfindung auf den Märkten dann besser funktionierte, die Produktion rasch gesteigert, professionalisiert und rationalisiert wurde, erwuchs das nächste Problem: Die Anzahl der Arbeitslosen stieg von 600 000 im Jahr 1948 auf knapp zwei Millionen im Jahr 1950. Die Opposition sprach von bösen Auswüchsen des neuen Kapitalismus, strengte Verfassungsklagen an und forderte eine planende Wirtschaftsführung. Der US-amerikanische Leiter der Marshallplanverwaltung erklärte, eine freie Wirtschaft sei ein in diesen Zeiten unangebrachter Luxus.

Die historisch verklärte Sicht täuscht darüber hinweg, dass Ludwig Erhard alles andere als einen Spaziergang zu bewältigen hatte. Eine große Mehrheit in Politik und öffentlicher .Meinung war gegen ihn. Das hat ihn nicht abgehalten. Er wusste, was die Ordnung der Freiheit zu mobilisieren vermag.

Heute fehlt der Mut, ordnungspolitisch Gebotenes auch gegen die öffentlich inszenierte Mehrheitsmeinung durchzusetzen. Ohne Skrupel wird eine Mindestlohngesetzgebung vorangetrieben, die nicht nur Arbeitsplätze vernichten wird, sondern sogar die Tarifautonomie aus den Angeln zu heben droht.

Da hilft es wenig, wenn die Kanzlerin sich anlässlich 60 Jahre Sozialer Marktwirtschaft gegen den Mindestlohn ausspricht, weil dieser dort, „wo die Nachfrage vom Preis abhängt,... ein Jobkiller“ ist. Welchen Wert hat solche Feiertagsprosa, wenn man nicht den Willen und den Mut aufbringt, den ordnungspolitischen Sündenfall zu verhindern? Stolz und Vorurteil machen blind für die wirklichen Zusammenhänge. Erhard wird man nicht gerecht, und den Menschen werden Chancen für den von der Kanzlerin betonten Einstieg in den Aufstieg genommen.

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