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Michael Hüther im Handelsblatt Gastbeitrag 11. Januar 2016

Willkommene Arbeitskräfte

Michael Hüther, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln, zieht im Handelsblatt die Lehren aus der Anwerbung von "Gastarbeitern" vor 60 Jahren.

Der Flüchtlingszustrom bringt viel in Bewegung. Die große Herausforderung der Integration ist zum Jahreswechsel vom Städtetag nochmals betont worden. Zugleich wurde bestätigt, dass bei den Bürgern weiterhin eher eine entspannte Haltung vorherrscht.

Das ist beachtlich, im Vergleich mit früheren Zeiten hierzulande und ebenso im Vergleich mit der gegenwärtigen Situation in den meisten europäischen Staaten. Insofern sind die Voraussetzungen für eine positive Bewältigung der Aufgabe deutlich besser als früher und als andernorts.

Doch ein Selbstläufer ist es gleichwohl nicht. Auch wenn manche Stimme aus dem Lager der Ökonomen dies nahelegt. Am Anfang steht die sorgfältige Analyse dessen, was ist und was sein kann, und nicht die Predigt dessen, was sein soll. Wer auf die Probleme hinweist, der wendet sich weder gegen die Integration der Flüchtlinge, noch irritiert er die Bürger. Zum Realismus gehört aber auch die Offenheit, deutlich zu machen, was wir derzeit nicht wissen. Und das überwiegt, da die Informationen über die Flüchtlinge, ihre Sozialstruktur, ihr Bildungsniveau und die beruflichen Kompetenzen sehr rudimentär sind.

In einer solchen Situation kann man bei den gemachten Erfahrungen Rat suchen. Tatsächlich ist der Beschäftigungsaufschwung der letzten Jahre in erheblichem Ausmaß durch Zuwanderung gespeist worden, vor allem aus der Europäischen Union. Das freilich war eine anders motivierte, nämlich vom Arbeitsmarkt angeregte Migration als die der Flüchtlinge.

Deshalb ist Vorsicht geboten, daraus geradewegs positive Erwartungen für deren Integration abzuleiten. Vergleicht man die Flüchtlingszuwanderung nach Deutschland, die nach 1985 stattgefunden hat, mit der Arbeitsmigration, dann ist der Befund bei der beruflichen Qualifikation und der Erwerbstätigkeit eindeutig: Die Flüchtlinge schneiden jeweils deutlich schlechter ab.

Die Unbestimmtheit, mit der trotz des großen Engagements der Gesellschaft die Integration der Flüchtlinge thematisiert werden muss, hat auch damit zu tun, dass die Bundesrepublik einerseits seit 60 Jahren faktisch ein Einwanderungsland ist, sich andererseits aber erst seit der Jahrtausendwende offensiv diesem Thema stellt. Die Geschichte der bundesrepublikanischen Einwanderungspolitik war über Jahrzehnte gekennzeichnet durch eine unklare Motivlage, einen fehlenden systematischen Ansatz und eine ideologische Verkleidung unter dem Slogan, kein Einwanderungsland zu sein.

Dabei wurde früh mutig gehandelt. Heute auf den Tag vor sechzig Jahren wurde das Anwerbeabkommen mit Italien veröffentlicht und so der erste geregelte Zuzug ausländischer Arbeitnehmer nach Deutschland möglich. Diesem folgten bis 1968, also kurz nach Überwindung der ersten Rezession nach dem Krieg, weitere Abkommen mit Spanien (1960), Griechenland (1960), der Türkei (1961), Marokko (1963), Südkorea (1963), Portugal (1964), Tunesien (1965) und zuletzt Jugoslawien. Ausgangspunkt waren ökonomische Entwicklungsunterschiede zwischen Deutschland und den Herkunftsländern, so dass die Wanderung von Arbeitskräften beiden Seiten als ein sinnvoller Ausgleichsmechanismus erschien.

Die Initiative ging jeweils von den Entsendeländern aus. So war es auch die italienische Regierung, die seit 1953 im Rahmen der Handelsgespräche auf eine gezielte Öffnung des deutschen Arbeitsmarktes drängte. Den Hintergrund bildeten einerseits die hohe Arbeitslosigkeit in Italien sowie die Angst vor einer deshalb drohenden politischen Radikalisierung und andererseits der kräftige Wirtschaftsaufschwung in Deutschland. Wirtschaftsminister Erhard unterstützte dies Ansinnen wegen des italienischen Außenhandelsdefizits und der deshalb drohenden Beschränkung deutscher Exportmöglichkeiten.

Italien litt seit den frühen 1950er-Jahren an einer zunehmend defizitären Handelsbilanz, was vor allem auf dem Warenaustausch mit der Bundesrepublik beruhte. Erhard sah wie die italienische Regierung in dem Zuzug von Arbeitskräften nach Deutschland und deren DM-Überweisungen in die Heimat die wirkungsvollste Möglichkeit, das Defizit Italiens abzubauen und den Handel weiter zu stärken.

Dabei sollten die italienischen Arbeitskräfte den Bedarf an ungelernter Arbeit decken und so Spielräume für die Qualifikation der heimischen Beschäftigten schaffen. Organisiert wurde die Auswahl der Personen nach Vorauslese auf italienischer Seite durch die von der Bundesanstalt eingerichtete "Deutsche Kommission" in Verona, wo die deutschen Arbeitgeber direkt Einstellungen zu deutschen Tariflöhnen vornahmen.

Im Ergebnis wurde der Bundesrepublik ein zusätzliches Arbeitskräftereservoir erschlossen, als der Arbeitsmarkt gerade erst Vollbeschäftigung signalisierte. So lag 1955 die durchschnittliche Arbeitslosenzahl bei nur 500 000, was einer Arbeitslosenquote von rund 2,5 Prozent entsprach. Schon für 1957 erwartete die Bundesregierung angesichts des Aufbaus der Bundeswehr einen Fachkräfteengpass. Dennoch waren in Deutschland seinerzeit über 55 Prozent der Befragten mit Verweis auf hinreichend verfügbare heimische Arbeitskräfte gegen die Anwerbung, dies galt zeitweilig ebenso für die Arbeitgeberverbände und die Gewerkschaften. Kritisch diskutiert wurde dabei die Möglichkeit, durch arbeitssparenden technischen Fortschritt - also über Produktivitätssteigerungen - Wachstum trotz knappen Arbeitskräftereservoirs zu erzeugen.

Die Grundannahme aller Anwerbeabkommen war ein zeitlich befristeter Aufenthalt in Deutschland. Deshalb gab es weder vonseiten der deutschen Behörden noch der deutschen Zivilgesellschaft, aber auch nicht vonseiten der Arbeitsmigranten selbst einen Ansatzpunkt und eine Perspektive der Integration. Es blieb den Umständen und dem Zufall überlassen. Das blieb selbst dann so, als der Aufenthalt dauerhaft wurde und die Anzahl ausländischer Arbeitskräfte nach 1970 die Vier-Millionen-Marke erreichte. Thematisiert wurde lediglich die miserable Versorgung dieser Arbeitskräfte mit angemessenem Wohnraum, die sich trotz zunehmender Etablierung sowie eines verstärkten Familiennachzugs kaum besserte und von Bundespräsident Heinemann 1970 als erbärmlich bezeichnet wurde.

Problematisiert wurde nach 1970 der einseitige Zuzug in Ballungsgebiete, rund 50 Prozent aller Ausländer lebten auf vier Prozent der Fläche des Bundesgebietes. Die damit verbundene Übernutzung der sozialen Infrastruktur in den betroffenen Kommunen führte bereits vor der ersten Ölkrise zu veränderten Ansätzen einer Steuerung, beispielsweise über eine Kopplung an verfügbarem Wohnraum.

Direkt nach Ausbruch der Ölkrise beschloss die Bundesregierung am 23. November 1973 einen sofortigen Anwerbestopp. Dann erst kam in den Medien und der Öffentlichkeit der irreführende Begriff "Gastarbeiter" auf, wodurch das Provisorische dieser Migration sprachlich seinen Ausdruck erst dann fand, als die Arbeitsmarktlage einen Zuwanderungsbedarf immer weniger zu begründen vermochte.

Die Bundesrepublik verweigerte sich lange der aus dem Zuzug ausländischer Arbeitnehmer und später dem Nachzug ihrer Familien resultierenden Veränderung der Gesellschaft. Man wollte kein Einwanderungsland sein, man benötigte diese Festlegung, um die politische Akzeptanz ausländischer Arbeitnehmer hierzulande zu sichern. Das funktioniert heute nicht mehr. Zu offenkundig sind die dauerhaften Kosten unterbliebener Integration. Zu deutlich sind die Folgen einer verfehlten Steuerung der Zuwanderung, denn die Anwerbeabkommen ermöglichten ja eine gezielte Auswahl der anzuwerbenden Personen nach der Arbeitsmarktlage. Doch dies sichert für sich genommen noch keine erfolgreiche Integration.

Daraus folgt: Der Zustrom an Flüchtlingen in großer Zahl enthebt uns erstens nicht der Pflicht, das zweifellos sehr liberale Zuwanderungsrecht der Bundesrepublik aus seiner Kompliziertheit zu befreien und gesetzlich transparent zu fassen. Es muss zweitens gelingen, die Verteilung der Zuwanderer effektiv an den für die Integrationschancen relevanten Kriterien - Infrastrukturausstattung, Wohnraumverfügbarkeit, Sozialstruktur und Engagementkultur - zu orientieren.

Der Königsteiner Schlüssel jedenfalls, der auf Basis von Steuereinnahmen und Bevölkerungszahl die Asylbewerber auf die Bundesländer verteilt, erfüllt diese Funktion nicht. Drittens sollte durch ein Integrationsgesetz das Fördern und Fordern im Miteinander von Ansässigen und Migranten geklärt werden, so dass aus der Zuwanderung eine erfolgreiche Einwanderung in unsere Gesellschaft werden kann.

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