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Michael Hüther in der Süddeutschen Zeitung Gastbeitrag 20. Juli 2012

Mitverantwortung, eine vergessene Kategorie

Die Mitglieder einer Gesellschaft benötigen einen gemeinsamen Sinn für ein gemeinsames Interesse, schreibt IW-Direktor Michael Hüther in der Süddeutschen Zeitung. Das haben schon alte Ökonomen so gesehen.

Der Kapitalismus ist in Verruf geraten, mit ihm die Wirtschaftsordnung der Sozialen Marktwirtschaft. Krisen, Funktionsstörungen und nicht eingelöste Leistungsversprechen sind für viele hinreichende Gründe, sich von ihr abzuwenden und nach Neuem zu suchen. Kritik und Zweifel beschränken sich diesmal nicht auf die üblichen Verdächtigen, sondern haben weite Kreise des Bürgertums erfasst.

Es lässt sich viel gegen diese Sichtweise anführen - wie der Hinweis auf eine zu lange überbordende Staatstätigkeit, auf falsche Regulierungen oder auf eine unverantwortliche Geldpolitik der amerikanischen Notenbank Fed - und ebenso kann argumentiert werden, dass die geradezu messianischen Hoffnungen auf eine Finanztransaktionssteuer, welche die Kapitalismuskritiker eint, illusionär sind, weil sich die ökonomische Logik nicht aushebeln lässt. Doch mit Fakten und Argumenten kommt man in einer emotional getragenen Debatte nicht weit. Und es verkennt, dass die ökonomische Theorie ihren Anteil an den Problemen hat.

So didaktisch wertvoll und analytisch reizvoll unsere Standardmodelle (unter anderem der Neo-Klassik) auch sind, sie verstellen uns allzu leicht und auf verzerrende Weise den Blick auf die Realität: auf die historischen, kulturellen, regionalen, institutionellen und individuellen Bedingungen und Voraussetzungen für die Funktionsfähigkeit eines über Märkte - damit letztlich über dezentrale Entscheidungen unter Restriktionen - gesteuerten Systems. Uns ist dabei etwas verloren gegangen, was sowohl den Denkern der ökonomischen Klassik als auch den Ordoliberalen stets bewusst war: die Bedeutung der Mitverantwortung als Steuerungsressource offener Gesellschaften wie offener Märkte. Man muss sich nur auf die schottischen Moralphilosophen und Ökonomen Adam Smith, John Millar, David Hume und Adam Ferguson besinnen. David Hume hat mit seiner Formulierung eines 'common sense of interest' in seinem 'Treatise of Human Nature' (1739/40) wohl am trefflichsten auf den Punkt gebracht, worum es einer vom Individuum her gedachten und legitimierten Gesellschaften gehen muss: Ihre Mitglieder benötigen einen 'gemeinsamen Sinn für ein gemeinsames Interesse'.

Diese gemeinsame und gegenseitige Interessenbekundung lebt von der Erfahrung, dass die Kooperation, das Einlassen auf Konventionen und die Akzeptanz von Verfahrensregeln den Einzelnen besser stellt und so in seinem ureigenen Interesse liegt. Gesellschaften beruhen auf der Bereitschaft zur Kooperation, sie geben Sicherheit und schaffen Raum für Entwicklung, sie stabilisieren Beziehungen und bündeln Kräfte. Da die dafür glaubwürdig begründende Erfahrung mit zunehmender Größe und Anonymität der Gesellschaft immer weniger wirkt, benötigen wir den Staat als Agenten der Rechtssetzung und Sanktionierung. Doch der Staat kann seine Aufgabe nicht einmal ansatzweise erfüllen, wenn nicht ein 'common sense of interest' wirksam ist, wenn die Mitglieder der Gesellschaft nicht auch zu Bürgern des Staates werden, wenn neben die Kooperationsforderung nicht auch die Tugend des Einzelnen tritt.

Die Befürchtung, moderne, komplexe und differenzierte Gesellschaften könnten mangels Gemeinsinn zerfallen, ist hoch aktuell. Für die USA ist jüngst spannenderweise sowohl aus neokonservativer Sicht wie aus kommunitaristischer Perspektive so argumentiert worden. Charles Murray thematisiert in 'Coming Apart. The State of White America 1960 - 2010' (2012) den Niedergang der weißen Mittelschicht im Sog eines seit den 1960er Jahren laufenden kulturellen Werteverfalls. Michael Sandel argumentiert in 'What Money Can"t Buy: The Moral Limits of Markets' (2012), dass funktionsfähige demokratische Gesellschaften eines gemeinsamen Erfahrungsraums für ihre Mitglieder bedürfen. Stattdessen beobachten wir, wie Plätze und Institutionen gemeinsamen Argumentierens, Handelns, Verständigens verloren gingen, wie der öffentliche Raum als Ort des Gemeinsinns schrumpft.

Modernen Großgesellschaften gelingt es offenkundiger immer weniger, den öffentlichen Raum durch 'einen gemeinsamen Sinn für ein gemeinsames Interesse' zu bewirtschaften. Der Ruf nach Regeln schürt die Illusion, es sei alles und jedes zu regeln, so dass der einzelne aus seiner Verantwortung im Alltäglichen entlassen sei, wenn er sich nur daran halte.

Doch dies greift zu kurz. In der Wirtschaftsethik wurde das Konzept der Spielregeln durch das des Spielverständnisses ergänzt, um so deutlich zu machen, dass es unterhalb der Regelebene gleichwohl einen Raum für gesellschaftliche Verantwortungsübernahme gibt. Daran schließt sich die Frage an, wie dieser gefüllt werden kann. Denn solche Form der Verantwortung trifft den Einzelnen nicht als kodifizierte, sondern als bürgerliche Pflicht, die - so widersprüchlich das klingt - freiwillig ist und erst dadurch ihre Würde gewinnt.

Die Antwort liegt nicht in Staatsbürgerkunde, sondern in der Erkenntnis, dass das Erleben von fairen Kooperationsbedingungen am ehesten im gewünschten Sinne wirkt. Wenn die Regeln frei von Privilegien sind und neutral zur Anwendung kommen, wenn die Akteure erfahren, dass die Suche nach individuellem Vorteil unter Wettbewerbsbedingungen und bei unabdingbarer Haftung sich ertragreich vollzieht, und dies unter den Bedingungen der Chancengerechtigkeit, dann ist dies die beste Schule der Mitverantwortung. Staatliche Systeme jenseits des Wettbewerbs, die dazu einladen, möglichst dauerhafte Rentenpositionen zu erringen, bewirken hingegen das Gegenteil. Es bedarf verlässlicher Institutionen, Regeln und Verfahren, um dem Einzelnen im Alltag das Vertrauen in die eigenen Kräfte wirksam zu ermöglichen, das erst die Selbstsorge und die Mitverantwortung trägt. Wir müssen deshalb auf die Glaubwürdigkeit der Institutionen achten, und wir müssen Regeln und Verfahren im Zeitraum ihrer Geltung ernst nehmen.

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