Der Koalitionsvertrag ist ein Dokument der Verzagtheit, schreibt Michael Hüther, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln, in der Zeit.
Misstrauen gegen uns alle
Das Wesen eines Koalitionsvertrages ist der Kompromiss. Diese politische Logik muss auch der Ökonom berücksichtigen, der sich für Kompromissformeln nur selten begeistern kann. Doch der politisch gebotene Mittelweg muss der Lage angemessen sein, und er sollte das selbst gesteckte Ziel erreichen. Im Idealfall sind beide Kriterien deckungsgleich. Für den Koalitionsvertrag gilt dies nicht. Zwar ist der dort skizzierte Befund zutreffend, dass Deutschland wirtschaftlich gut dasteht, der Arbeitsmarkt so aufnahmefähig ist wie selten zuvor, aber immer noch Menschen außen vor sind. Auch die Zielsetzung, das Land wirtschaftlich weiter voranzubringen, ist überzeugend. Die Aufgabe ist groß – doch ein schlüssiges Konzept fehlt.
Nötig wäre ein Mittel gegen die seit geraumer Zeit zu beobachtende Investitionsschwäche in Deutschland. Selbst die Bundesregierung geht deshalb für die nächsten Jahre nur von einem sogenannten Trendwachstum von 1,2 Prozent aus. Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung hat in seinem jüngsten Jahresgutachten ermittelt, dass sich Unsicherheiten mit Blick auf die politische Lage und die Finanzmärkte negativ auf das Investitionsklima auswirken. Ändert der Koalitionsvertrag daran etwas?
Leider nein. Zunächst belastet die Energiewende: Deutschland hat die höchsten Industriestrompreise in Europa. Viel Hoffnung auf eine grundlegende Reform des Erneuerbare-Energien-Gesetzes (EEG) macht der Vertrag nicht, allzu oft werden die bestehenden Regeln darin als bewährt kategorisiert.
Die Energiewende müsste aus dem sachfremden Zusammenhang der Klimapolitik befreit werden, deren Ziele und Bedingungen durch die CO2-Emissionsrechte eindeutig definiert sind. Der Preis für CO2-Zertifikate allein könnte die Energiewende steuern, der kostentreibende Subventionsmechanismus des EEG auslaufen.
Investitionen werden auch nicht dadurch gestärkt, dass bei "gemeinschädlichem Handeln" mit einem neuen Unternehmensstrafrecht gedroht wird. Wer kann diesen Tatbestand justiziabel machen? Lässt sich letztlich nicht jedes eingetretene Risiko so wenden? Deutschland benötigt aber mehr Risikobereitschaft, gerade der Banken, wenn der Strukturwandel durch Innovationen getrieben werden soll, was der Vertrag an anderer Stelle sagt.
Die Finanzierung der Realwirtschaft darf nicht gefährdet werden, heißt es darin auch. Doch die naheliegende Forderung, deshalb alle Finanzmarktregulierungen in ihrem Zusammenwirken zu analysieren, kommt allenfalls nachrangig daher.
Am Arbeitsmarkt sind die Signale widersprüchlich. Sinnvoll ist die gesetzliche Regelung der Tarifeinheit. Es sichert den ökonomischen Vorteil eines Flächentarifvertrages, wenn für alle in einem Betrieb aktiven Gewerkschaften eine einheitliche Friedenspflicht gilt.
So wird die Tarifautonomie gestärkt. Der gesetzliche Mindestlohn hingegen droht diese Tarifautonomie auszuhöhlen. Mit ihm würde eine Mindestlohnkommission den Spielraum für Lohnerhöhungen definieren. Der Mindestlohn verringert also das Interesse an Tarifverträgen und schwächt die Gewerkschaften. Und nicht zuletzt erhöht er gerade für Menschen mit geringer Qualifikation die Einstiegsschwelle in den Arbeitsmarkt. Ist das wirklich wünschenswert?
Der Koalitionsvertrag kommt ökonomisch insgesamt sehr defensiv, geradezu verzagt daher. Neue Risiken, wie bei der Ölförderung durch das sogenannte Fracking, werden abgelehnt und nicht nüchtern gegen die Chancen abgewogen. Die der Politik ohnehin angeborene Neigung zum Mikromanagement führt dazu, dass kleinteilig gesteuert werden soll, bis zum Fahrsicherheitstraining.
Gleichzeitig blüht die Neigung, Missbrauchsgefahren – gerade am Arbeitsmarkt – in Gesetze einzupflegen. Doch die können ihrem Wesen nach nur Standards setzen und generelle Lösungen oder Handlungsräume definieren. Gerechtigkeit im Einzelfall ist per Gesetz nicht herzustellen. Wer versucht, singuläre Erscheinungen – so misslich sie sein mögen – zum Ausgangspunkt für rechtliche Standards zu machen, missbraucht die Gesetzgebung.
Hinzu kommt, dass der Koalitionsvertrag bei einigen großen Themen schlicht widersprüchlich ist. So werden die Potenziale des Alters immerhin benannt, und sogar ein Demografie-Check wird angekündigt, der die Auswirkungen von Gesetzesvorhaben auf die künftigen Generationen bewerten soll. Dass dies mit den geplanten Vorhaben in der Rentenversicherung unvereinbar ist, wird aber ignoriert. Nach zwanzig Jahren einer demografieorientierten Politik schwenken beide Volksparteien auf den Kurs höherer Ausgaben und neuer Leistungen um.
Die abschlagsfreie Rente ab 63 Jahre ist exakt das Gegenteil dessen, was der "weltweit schnellste und tiefgreifendste demografische Wandel" – so die Koalitionäre – erfordert. Die Botschaft lautet: Kommando zurück, es war nicht so gemeint mit dem Rentenzugangsalter von 67 Jahren. Die Mütterrente mag man als wünschenswert ansehen, doch im Demografie-Check muss sie negativ bewertet werden. Das Urteil über die Lebensleistungsrente fällt noch ungünstiger aus, da sie das eigentliche Problem nicht löst, sondern neue Ungerechtigkeiten schafft und die Grundsicherung im Alter entwertet.
Alles in allem: Die gute wirtschaftliche Entwicklung sollte Zutrauen in die privaten Akteure begründen. Der koalitionäre Vorhabenkatalog ist dagegen von Misstrauen geprägt. Da wird eingehegt, was sich einhegen lässt, damit es ohne Überraschung weitergehen kann im Deutschland-Takt, dem sich die Koalitionäre beim Schienenverkehr auch noch gewidmet haben.
Das Plädoyer für Innovationen überzeugt deshalb nicht. Dabei könnte die Regierung große nationale Aufgaben angehen, die nach Jahren europäischer Krisenpolitik nun auf der Agenda stehen: Demografie, Energie, föderale Finanzverfassung. Jetzt wäre eigentlich die Zeit der Vorsorge, nicht der Fürsorge. Der Koalitionsvertrag berücksichtigt diese Wahrheit leider nur unzureichend.
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