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Michael Hüther im Unternehmermagazin Creditreform Gastbeitrag 6. Oktober 2021

Ein Plädoyer für demokratische Prozesse

Digitalisierung, Globalisierung und Klimapolitik lassen die Gesellschaft zerfasern. Gewinner und Verlierer dieser Prozesse stehen sich zunehmend unversöhnlich gegenüber, so dass die übergreifende Bindungswirkung nachlässt und demokratische Entscheidungen zum Teil infrage gestellt werden. Eine Stärkung des gesellschaftlichen Dialogs scheint nötig, schreibt IW-Direktor Michael Hüther in einem Gastbeitrag für das Unternehmermagazin Creditreform.

Moderne Demokratien beruhen auf dem Grundsatz der Repräsentation. Die Souveränität des Volkes verschafft sich über Wahlen und Partizipation in demokratisch definierten Verfahren und Institutionen Geltung, aber auch über das zivilgesellschaftliche Reden und Handeln im öffentlichen Raum.

Das spannungsreiche Miteinander beider Wege bestimmt den Erfolg der demokratischen Ordnung. Offenheit und Reaktionsfähigkeit der Institutionen gehören dazu ebenso wie Sensibilität und Dynamik der Zivilgesellschaft. Dabei ist immer sicherzustellen, dass Gerechtigkeit durch geordnete, willkürfreie Verfahren geschaffen wird.

Denn nur so kann gewährleistet werden, dass die Mehrheitsentscheidung Minderheitenrechte beachtet, aber keine Dauerblockade besteht.

Die Komplexität nimmt zu

Ein Problem dabei ist die steigende Komplexität der politisch zu gestaltenden Themen, die immer stärker nach Expertenwissen und Kommissionen verlangt, die dem demokratischen Prozess nur vorgelagert sein können.

Eine wahrgenommene Divergenz zwischen dem Handlungsdruck und tatsächlichen Handlungen führt zu Forderungen, man solle doch einfach „der Wissenschaft“ folgen.

Doch dies negiert die Pluralität wissenschaftlicher Standpunkte und die Vielfalt der Instrumente, mit denen übergeordnete Ziele erreicht werden können. Zugleich würde die Entscheidungsfindung aus der politisch-demokratischen Arena heraus delegiert.

Globalisierung, Digitalisierung und Klimawandel haben den Eindruck einer verstärkten Fern- und Fremdbeeinflussung begründet. Offene Märkte und demokratische Souveränität scheinen nicht ungesteuert zueinanderzupassen. Renationalisierung und Abschottung können für das Exportland Deutschland aber nicht die Antwort sein.

Eigentlich sollten sich Demokratie und Marktwirtschaft gerade aufgrund ihrer unterschiedlichen Funktionslogiken positiv beeinflussen, da die Demokratie exogener Impulse durch Präferenzveränderungen bedarf, die Marktwirtschaft hingegen den stabilen und verlässlichen Rahmen einer Demokratie.

Doch diese Wechselbeziehung droht sich ins Gegenteil zu verkehren. Globalisierung und Digitalisierung treiben systemische Veränderungen an, die das Funktionieren demokratischer Öffentlichkeit und Repräsentation verändern.

Gesellschaftliche Gruppen driften auseinander

Der wirtschaftlich-technische Fortschritt begünstigt die Individualisierung und sozialräumliche Fragmentierungen, während die Kontroll- und Steuerungsmöglichkeiten sich zum Teil auf supranationale Ebenen verschieben.

Dies führt zu einer andersgearteten Konfliktlinie durch die Gesellschaft als bisher erlebt: Es bilden sich Gruppen, die von den neuen Optionen unterschiedlich betroffen sind: Hier die Sorgen um die Fernbeeinflussung des eigenen Lebensstils und die Orientierung an kleinräumigen Gemeinschaften, dort die (scheinbar) unlimitierte Offenheit für das Neue in klarer Ablehnung von Traditionen.

Die oft als dominant wahrgenommene Position der Polyglotten ruft Protest und Ablehnung der engeren Bindungsgemeinschaften hervor.

Die global orientierten „Anywheres“ verkennen die gesellschaftlichen Voraussetzungen ihrer Identitätsansprüche, die regional gebundenen „Somewheres“ hingegen ignorieren die Voraussetzungen des öffentlichen Raums, von dem sie sich ausgeschlossen fühlen.

Der demokratische Diskurs wird schwieriger, je unversöhnlicher sich die Positionen gegenüberstehen. Diese Konfliktlage ist deshalb so herausfordernd, weil vor allem diejenigen, die sich als benachteiligt sehen, kaum erwarten, ihre Position in Zukunft – wie es dem demokratischen Prozess grundsätzlich entspräche – durchsetzen zu können.

Spannend wird es dann, wenn antipluralistische Einstellungen über die politischen Ränder hinaus verbreitet sind und sich quer durch die Gesellschaft ziehen. Dies erscheint für Deutschland als Arbeitshypothese plausibel, wenn man bedenkt, dass die Finanzkrise, die Staatsschuldenkrise, die Fluchtkrise, die Pandemie und die Klimakrise insbesondere zu Gegensätzen entlang moralisch kodierter Positionen geführt haben.

Abkehr von demokratischen Abläufen bei moralisch aufgeladenen Themen

Moralisch aufgeladen sind jedoch die Positionen beider Gruppierungen, und oft wird mit Verweis auf die Wissenschaft argumentiert. Dies wird als Argument für eine andere Form des Regierens verwendet, nämlich das Durchregieren.

Eine Online-Befragung konnte zeigen, dass antipluralistische Präferenzen in verschiedene Bevölkerungsschichten hineinreichen und themenspezifisch mit einer Abkehr von demokratischen Prozeduren einhergehen.

Während es wenig verwundert, dass sich viele „Somewheres“ mit AFD-Sympathien für die Aushebelung demokratischer Strukturen zur Begrenzung der Migration aussprechen, ist dieses Phänomen bei „Anywheres“ mit Grünen-Sympathien in der Klimafrage sowie bei SPD-nahen Anhängern stärkerer Umverteilung ebenfalls zu beobachten.

Zwar besteht in breiten Bevölkerungsschichten trotz der jeweils als dringlich empfundenen Handlungsbedarfe eine hohe Dialogbereitschaft, doch haben sich thematische Silos entwickelt, über deren Grenzen hinweg kaum Austausch stattfindet. Was kann getan werden?

Neben dem Werben für die demokratischen Prozeduren könnte man Formate des Austauschs zwischen Parlament und Zivilgesellschaft testen, die ähnlich den Beteiligungsformaten bei Projekten einen geordneten Dialog ermöglichen.

Zum Beitrag auf creditreform-magazin.de

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