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(© Foto: JOEL CARILLET/iStock)
Rolf Heinze, Thomas Klie, Gerhard Naegele und Michael Hüther auf zeit.de Gastbeitrag 2. März 2016

Die Flüchtlinge kommen nicht, um unsere Probleme zu lösen

Humanitärer Anspruch und reale Politik klaffen in der Flüchtlingsfrage auseinander. Es bedarf in Deutschland dringend einer umfassenden Strategie zur Integration, schreiben IW-Direktor Michael Hüther, Rolf Heinze, Thomas Klie und Gerhard Naegele in einem Gastbeitrag auf Zeit Online.

Die Flüchtlingsfrage dominiert die deutsche Politik, und wie im Spiegelbild der Gesellschaft reicht das Spektrum von großem Engagement bis zu ebenso großer Verunsicherung und gar Abwehr. Eine verantwortungsvolle humanitäre Haltung löst dabei noch nicht die daraus folgenden Probleme; und auf europäische Solidarität ist kaum zu hoffen. Deutschland ist vorerst mehr oder weniger auf sich allein gestellt.

Um der Verantwortung entsprechen zu können, sind die großen gesellschaftlichen Potenziale zu würdigen und die zugleich bestehenden Verunsicherungen zu thematisieren. Dabei kann eine verlässliche und überzeugende Rahmung der Flüchtlingspolitik nicht nur das Engagement konstruktiv einbinden, sondern zugleich auf die Verlustängste eingehen, die von einigen Bevölkerungsgruppen auf die Flüchtlingsfrage projiziert werden. Statt populistischen Forderungen nachzugeben, muss die Politik rechtsstaatlich ausgerichtet, der historischen Bedeutung der Flüchtlingsfrage angemessen und realistisch reagieren.

Der Druck, der infolge der Flüchtlingsmigration auf Gesellschaft, Politik und Wirtschaft lastet, kann konstruktiv nur gewendet werden, wenn eine umfassende politische Strategie für die Integration der Flüchtlinge entwickelt wird sowie die Sicherung der Staatsfunktionen für alle garantiert ist. Wir plädieren für eine "konzertierte Aktion in der Flüchtlingspolitik", die neben Ländern, Städten und Kommunen die Sozialwirtschaft und die Zivilgesellschaft einbezieht. Die konzertierte Aktion dient dazu, auf der Basis grundsätzlicher und langfristiger Festlegungen die laufenden Handlungen der Beteiligten so auf einander abzustimmen, dass das Gemeinsame im Vordergrund steht und Einzelinteressen in den Hintergrund rücken. Es geht um die Einladung an den "Tisch der gesellschaftlichen Vernunft", von dem Karl Schiller vor 50 Jahren in einem anderen Kontext sprach. Hier sind die zentralen Fragen auszuhandeln.

Erstens muss die grundsätzliche Perspektive der Flüchtlingspolitik geklärt werden. Die Einstellungen dazu schwanken sowohl in der Politik als auch in der Gesellschaft zwischen einer nüchternen Haltung, die von zeitlich begrenzter Hilfe bei einem befristeten Aufenthalt ausgeht, und einer Euphorie, die sich aus dem Potenzial für die Bewältigung unseres demografischen Wandels ergibt. Dabei ist zu bedenken, dass die Flüchtlinge nicht kommen, um unserer Probleme zu lösen, sondern weil sie wegen Krieg und Gewalt in der Heimat nicht mehr sein können und durch diesen Verlust geprägt sind. Das bestimmt Chancen und Grenzen der Integration bei uns. Will man geflüchteten Menschen eine faire Chance für ein gelingendes Leben bei uns eröffnen, dann sind die Bildung und Beschäftigung die wichtigsten, wenn auch nicht die einzigen Brücken zu uns.

Die bisherigen politischen Änderungen haben die bestehenden Integrationsprogramme (etwa Sprachkurse) für Flüchtlinge geöffnet und den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtert. Jetzt gibt es erste Vorschläge, unter welchen Bedingungen Flüchtlinge künftig einen dauerhaften Aufenthaltsstatus erlangen können. Dass die Regierungspolitik unbestimmt ist, zeigt sich daran, dass an der Vorrangprüfung beim Arbeitsmarktzugang festgehalten wird und am Verbot der Zeitarbeit in den ersten fünfzehn Monaten. Ein solcher Kurs trägt nicht und verunsichert die anerkannten Flüchtlinge und all jene, die sich täglich für deren Integration engagieren, ob spontan, im Ehrenamt oder in Politik und Verwaltung.

Zweitens ist es notwendig, die Zuwanderungspolitik aus einem Guss zu gestalten. Zwar hat die Bundesrepublik mittlerweile eines der liberalsten Zuwanderungsregime weltweit, doch von der Einsicht, ein Zuwanderungsland zu sein, sind wir immer noch weit entfernt. So bleibt das Recht unbestimmt in der Frage der Arbeitsmigration, die allein auf den Potenzialen der Zuwanderer beruht. Wie soll eine Zuwanderung gesteuert werden, die gleichermaßen nachfrage- wie angebotsorientiert begründet werden kann? Das Versäumnis, diese Fragen zu klären und politisch aus der gesteuerten Zuwanderung eine Einwanderung zu machen, rächt sich nun, wo wir unter dem Druck der Flüchtlingsmigration die Handlungsfähigkeit zu verlieren drohen.

Drittens kann das überwältigende Maß an bürgerschaftlichem Engagement für Flüchtlinge seitens der staatlichen Verwaltung nicht einfach nur als notwendige Hilfe begrüßt werden. Es gilt, dieses konzeptionell einzubinden und zu fördern. Das oft spontane, projekthafte, innovative und selbstgesteuerte Engagement der Bürger bleibt nicht folgenlos für die Gestaltung von Ehrenamt und Sozialwirtschaft. Das Zusammenwirken der verschiedenen Arten bürgerschaftlichen Engagements wird gerade in den Kommunen und Regionen neu justiert werden müssen. Die Kommunalpolitik öffnet sich bislang in sehr unterschiedlicher Weise diesen konstruktiven Angeboten, ohne die die aktuelle Flüchtlingsfrage nicht gelöst werden kann. Darin liegen gewaltige Innovationspotenziale für die Bürgergesellschaft als Ganzes und Handlungsoptionen für die Kommunen.

Viertens werden Integrationsaufgaben sowie Integrationsleistungen der Kommunen in eine neue Qualität zu überführen sein. Dabei ist die Struktur der öffentlichen Leistungen im Lichte unterschiedlicher Interessen neu auszuhandeln. In der Wohnungspolitik, beim Ausbau sozialer Infrastruktur und bei der Förderung des Engagements sind die Interessen aller Bevölkerungsgruppen zu berücksichtigen. Das betrifft die Leistungen der Daseinsvorsorge, die lokale Siedlungspolitik und die Quartiersentwicklung, die sozial sorgenden Gemeinschaften, die verschiedenen Bildungseinrichtungen in kommunaler Trägerschaft und Verantwortung sowie nicht zuletzt die Gewährleistung von Sicherheit im öffentlichen Raum.

Fünftens muss das spezifische Miteinander von Bund, Ländern und Gemeinden in der Flüchtlingsfrage durch die konzertierte Aktion neu definiert werden. Das betrifft die konsequente Verantwortungsteilung gemäß dem Subsidiaritätsprinzip und eine Finanzausstattung, die dem angemessen und flexibel genug entspricht. Dabei obliegt es dem Bund, die Grenzen zu sichern und die Flüchtlingspolitik im europäischen Rahmen zu gestalten. Auch zuständig ist er für die Einrichtung von grenznahen Verwaltungseinrichtungen, die alle erfassen, jene, die eine Chance auf einen Aufenthaltsstatus haben und jene, die abgewiesen werden.

Um sich auf allen staatlichen Ebenen intensiv um die Integration der anerkannten Flüchtlinge kümmern zu können, müssen die Vollzugsprobleme bei der vollständigen Registrierung und Statusklärung der Flüchtlinge sowie der bedarfsgerechten Verteilung rasch abgearbeitet werden. Der Bund ist hier in der Pflicht, den selbsterkannten Kontrollverlust schnell zu korrigieren. Was hier nicht gelingt, können andere kaum noch heilen.

Die Verteilung auf die Länder sollte nicht mehr nach dem sachfremden Königsteiner Schlüssel, der die Beteiligung einzelner Länder an gemeinsamen Finanzierungen regelt, erfolgen, sondern nach Indikatoren wie Wohnraumversorgung, Infrastrukturnutzung, Beschäftigungsdichte oder regionalen Kriterien. Die Gemeinden müssen finanziell gestärkt und mit erweiterten Rechten der Selbstverwaltung für die Integrationspolitik ausgestattet werden und neue Formen der Kooperation ausloten, mit der Bürgergesellschaft und z.B. auch mit den Agenturen für Arbeit bzw. Jobcentern. Auf den Kommunen lasten die großen Aufgaben der Flüchtlingsintegration, und nur hier kann es gelingen.

Sechstens schließlich sollte die Bundesregierung die Einschätzung vieler Politiker ernst nehmen, dass die Flüchtlingsfrage die größte Herausforderung seit der Wiedervereinigung ist. Hier klafft eine große Lücke zwischen Bekenntnissen zur Humanität und praktischer Politik. Diese wird zunehmend unerträglich, weil sie der Wendung der Herausforderung in eine große Chance entgegensteht. Jede Herausforderung solcher Größe und Unabsehbarkeit erfordert in nahezu allen Politikbereichen Flexibilität und Offenheit für neue Lösungen. Für die Suche nach neuen Lösungen und mutigen Versuchen bietet die konzertierte Aktion in der Flüchtlingspolitik den geeigneten Rahmen. Dann wird der Blick auf das Notwendige frei und die Chance groß.

Prof Dr. Rolf Heinze ist Professor an der Ruhr-Universität Bochum; Prof. Dr. Thomas Klie lehrt an der Evangelischen Hochschule Freiburg, Prof. Dr. Gerhard Naegele an der Technischen Universität Dortmund.

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