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Michael Hüther im Handelsblatt Gastbeitrag 30. April 2024

Deutschland braucht eine neue, offene Industriestrategie

Wegen der unbefriedigenden wirtschaftlichen Lage Deutschlands, wäre ein produktiver Streit über den Kurs nötig, schreibt Michael Hüther in einem Gastkommentar für das Handelsblatt. Die Koalition brauche eine neue Geschäftsgrundlage.

Es ist ein beliebtes Zitat von reputierlicher Herkunft: „50 Prozent der Wirtschaft sind Psychologie“. Politiker nutzen es gern, um die Klagen der Wirtschaft als selbsterfüllende Prophezeiung zu demaskieren, die der wirklichen Lage nicht entspreche. Politiker sind aber keine Psychologen.

Ansonsten würden sie die Wahrnehmungen und Einschätzungen, die in den Unternehmen vorherrschen und sich in den Positionen der verbandlich verfassten Wirtschaft wiederfinden, nicht in Vorwürfe wenden und einen kommunikativen Bruch riskieren. Genau das ist derzeit zu beobachten.

Erwartungen derzeit besser als die tatsächliche Lageeinschätzung

Die gesamtwirtschaftliche Lage ist unbefriedigend. Das Urteil stützt sich auf die Konjunkturindikatoren, die trotz leichter Aufhellung für dieses Jahr nur eine Verlängerung der Stagnation versprechen. Dass beim Geschäftsklima die Erwartungen derzeit besser sind als die Lageeinschätzung, spricht gegen Bundeskanzler Olaf Scholz und seinen Vorwurf, die Wirtschaftselite rede den Standort Deutschland schlecht.

Die schwierige Lage manifestiert sich in ökonomischen Daten, die sich – wie der Index der preislichen Wettbewerbsfähigkeit oder Kostenindikatoren – zuletzt deutlich verschlechtert haben.

Das negative Urteil stützt sich ebenso auf die Herausforderungen bei der Transformation zur Klimaneutralität. Diese erfordert kräftige Unternehmensinvestitionen, doch die kommen nicht von der Stelle. Die nichtstaatlichen Bruttoanlageinvestitionen erreichten 2023 nur 19,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts; über 20 Prozent lag die Quote zuletzt im Jahr 2000.

Dass deutsche Unternehmen stattdessen kräftig im Ausland investieren, ist gleichwohl nicht das Problem. Beachtlich ist der seit 2020 rückläufige Zufluss an ausländischen Direktinvestitionen. Darin spiegeln sich – besonders angesichts der hohen Subventionen – bedenkliche Signale für den Standort.

Wirtschaftspolitik sollte jederzeit konsistent und nachvollziehbar sein, um die Erwartungen der Investoren an den Standort zu stabilisieren. In der Transformation zur Klimaneutralität gilt das umso mehr, weil Politik und Unternehmen gemeinsam unbeschriebenes Territorium betreten.

Die Krise der Erfahrung ist die Stunde der Erwartung. Zur deren Orientierung leistet diese Bundesregierung derzeit keinen überzeugenden Beitrag, vor allem seitdem durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Nachtragshaushalt für 2021 die fiskalische Geschäftsgrundlage zerbrochen ist.

Größere sowie verlässlichere öffentliche Investitionen notwendig

Das Herumdoktern am Klima- und Transformationsfonds und eine Budgetpolitik panikartiger Konsolidierung stellen das vorherige Regierungshandeln infrage. Das eine ist industriepolitisch verunsichernd, das andere passt nicht zur gesamtwirtschaftlichen Lage und zum makroökonomischen „Policy Mix“.

Notwendig sind in jedem Fall deutlich größere sowie verlässlichere öffentliche Investitionen. Diese Brüche haben tiefer gehende Ursachen: Es passt nicht viel zusammen im Regierungshandeln – selbstverschuldet und den Umständen sowie Herausforderungen geschuldet.

Ursächlich sind die disparaten Paradigmen der drei Regierungsparteien für die Frage, wie die Transformation zu gestalten ist. Die SPD und ihr Kanzler erzählen von Wirtschaftswunder und neuem Wachstum, verkennen aber, dass der klimaneutrale Umbau des Kapitalstocks für sich genommen keine Produktivitätseffekte zeitigt.

Die Grünen predigen den dirigistischen Wandel mit engen Vorgaben für die Lebensgestaltung, anstatt die Menschen zu Beteiligten zu machen. Die FDP verharrt dagegen in der Vorstellung, dass der Emissionshandel alles richten werde und marktgetriebene Innovationen alles lösen können.

Jede Regierungspartei verschanzt sich hinter ihren ideologischen Traditionsbeständen.

Der Strukturwandel per Termin – Klimaneutralität 2045 – verlangt eine konsistente, offene und lernfähige Industriestrategie. So wichtig der CO2-Preis ist, auch die Förderung von Ansiedlungen, neuen Technologien und Geschäftsmodellen hat dabei eine prinzipielle, aber nicht leicht systematisierbare Funktion.

Das marktliche Skalierungsversagen beim Hochfahren der Wasserstoffwirtschaft macht dies deutlich, der internationale Standortwettbewerb ebenso. Insofern muss mehr, aber mit besonderer Obacht getan werden. Ein Subventionswettlauf ist zu verhindern.

Notwendig wäre der produktive Streit in der Regierung über den passenden Kurs. Die Koalitionäre brauchen eine neue Geschäftsgrundlage. Stattdessen wird das Thema verdrängt, und jede Regierungspartei verschanzt sich hinter ihren ideologischen Traditionsbeständen.

Der Vorwurf des Schlechtredens ist der leicht zu enttarnende Versuch, darüber hinwegzutäuschen. Das nervt. Das belastet das Investitionsgeschehen. Deshalb muss die Debatte zurück auf die Sachebene, um der historischen Herausforderung gerecht werden zu können.

Hier geht es zum Handelsblatt-Artikel.

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