Russlands Angriffskrieg rüttelt alles durch. Das trifft besonders die Wahrnehmung, Bewertung und Perspektiven der Globalisierung, schreibt IW-Direktor Michael Hüther in einem Gastbeitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung.
Standpunkt: Außenwirtschaftliche Abhängigkeit
Die für viele offenkundig neue Feststellung, dass unser Land in erheblichem Maße von globalen Strukturen, weltwirtschaftlichen Räumen und spezifischen Ressourcen abhängig ist, führt zu fast schockartigen Reaktionen. Man müsse unabhängig werden, und man müsse sich entkoppeln von den internationalen Bedingungen, lautet eine Conclusio. Die verhältnismäßigere Reaktion verlangt, die globalen Lieferketten resilienter und die Beschaffung diverser zu gestalten.
Neben ökonomischen Motiven stehen moralische Appelle, sich nicht zu engagieren in Staaten oder sich von solchen zu entkoppeln, in denen gegen internationale Menschenrechtsstandards verstoßen wird. Unternehmen sollen, so wurde ausgehend von der Bedeutung russischer Energieimporte generell gefordert, jederzeit und überall im Falle politischer Sanktionen anpassungsfähig sein, um für diesen politischen Willen kein Hindernis zu bilden.
All dies macht eine Klärung erforderlich, was außenwirtschaftliche Abhängigkeit meint. In der ökonomischen Literatur hat das Konzept kein Zuhause. Wir kennen zwar die Norm des "außenwirtschaftlichen Gleichgewichts" aus dem Stabilitäts- und Wachstumsgesetz. Das entsprang einer Zeit, in der Handel bei fixierten Wechselkursen und limitierter Kapitalmobilität als Problem bewertet wurde, wenn der Überschuss oder das Defizit in der Leistungsbilanz mit Inflationsdruck respektive Verschuldungsdruck verbunden sein kann. Darum geht es jetzt genauso wenig wie um die entwicklungspolitischen Sorgen, die sich mit der Dependenztheorie verbanden.
Ökonomisch muss man zwischen der einzelwirtschaftlichen und der volkswirtschaftlichen Abhängigkeit unterscheiden. Unternehmen gestalten ihre Lieferketten sowie die Beschaffung von Rohstoffen und Vorprodukten nach betriebswirtschaftlicher Abwägung der Kosten und Risiken. Die Verlässlichkeit der Lieferbeziehungen hängt von den vertraglichen Bedingungen ab, die das Unternehmen aufgrund der Marktsituation und seiner Verhandlungsmacht erzielen kann. Gleichermaßen sind Auslandsinvestitionen zu würdigen, vor allem mit Blick auf den Investitionsschutz vor Ort.
Im volkswirtschaftlichen Aggregat bündeln sich die Kalküle der Unternehmen. Darin spiegeln sich die politischen Rahmenbedingungen, die sich aus Freihandels- und Investitionsabkommen, ebenso aus spezifischen Absicherungsangeboten für Auslandsinvestitionen ergeben. Das gesamte Netz der globalen Lieferketten einer Volkswirtschaft ist aber nicht nur Ausdruck der betriebswirtschaftlichen Optimierung, sondern der Spezialisierungsvorteile der beteiligten Ökonomien und damit der jeweiligen Standortbedingungen sowie der Regeln der internationalen Ordnung. Mit Chinas Beitritt zur Welthandelsorganisation WTO im Jahr 2001 haben sich die Bedingungen verändert. Die Unternehmen haben reagiert. China hat nicht nur als Absatzmarkt und Rohstofflieferant massiv an Bedeutung gewonnen, sondern ebenso als Investitionsstandort. Dieser wachsenden Bedeutung Chinas ist politisch mit einer Akzentverschiebung geantwortet worden: von der Forderung nach vergleichbaren Bedingungen für Unternehmen hin zur Forderung der Reziprozität der Möglichkeiten.
Unternehmensstrategien sind kein Ersatz für eine mutige Außenwirtschaftspolitik
Dennoch bleibt jede betriebswirtschaftliche Entscheidung ein unternehmerisches Risiko, nur so wird das Kapital sorgsam eingesetzt, indem bei der Beschaffung und der Standortwahl diversifiziert wird sowie Klumpenrisiken vermieden werden. Volkswirtschaftlich müsste man sich Sorgen machen, gebe es erkennbar ein Herdenverhalten - wie an den Finanzmärkten - und wäre die Länderallokation mit Blick auf die ökonomischen Fakten verzerrt. Dafür aber spricht wenig, es sei denn - wie im Fall gestalteter Wechselkurse - die Preisrelationen wären betroffen. Das aber kann nie von Dauer sein, weil es zügig die Spekulanten auf den Plan ruft.
Eine außenwirtschaftliche Abhängigkeit kann aus den unternehmerischen Positionen dann resultieren, wenn es politisch so bewertet wird. Vor allem führen die politische Ächtung eines Landes und die Etablierung eines Sanktionsmechanismus dazu; das ist der Fall Russland. Nun wird von den Unternehmen auch in China erwartet, dass sie Standorte meiden oder schließen, deren Bedingungen nicht unseren Vorstellungen entsprechen. Unternehmen sind für ihre Ergebnisse ebenso verantwortlich wie für ihre Reputation - Kunden, Mitarbeiter und Anteilseigner sind die wesentlichen Akteure. Darauf sollte man setzen, allerdings nicht auf abrupte Änderung.
Die Politik muss den Mut aufbringen, Menschenrechtsverstöße direkt und deutlich auch dort zu adressieren, wo es heikel sein mag. Unternehmensstrategien sind kein Ersatz für mutige Außenwirtschaftspolitik. Wandel durch Handel mag vielfach gescheitert sein, Wandel ohne Handel ist aber erst recht kein Selbstläufer. Mit einer allgegenwärtigen Sanktionsandrohung schafft die Politik erst außenwirtschaftliche Abhängigkeiten, die unternehmerisch nur durch eine breite Streuung und Eigenkapitalstärke - im Sinne einer Versicherungsprämie - aufzufangen sind.
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