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Michael Hüther in der Welt am Sonntag Gastbeitrag 19. November 2023

Schuldenbremse: Aus der Zeit gefallen

Regierung und Opposition müssen endlich eine Debatte über die Reform der Schuldenbremse führen, fordert IW-Direktor Michael Hüther in einem Gastbeitrag für die Welt am Sonntag.

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das den zweiten Nachtragshaushalt des Bundes für das Jahr 2021 für nichtig erklärt und die Überführung von 60 Milliarden Euro pandemiebegründeter Notfall-Kredite an den Klima- und Transformationsfonds annulliert, desavouiert alle Beteiligten in Berlin.

Die Regierungsparteien, weil sie leichtfertig diesen Ausweg wählten, und die klagende oppositionelle Union, weil sie keine Lösung hat, wie die gebotene Transformation zur Klimaneutralität finanziert werden soll. Dabei ist das Klimagesetz aus dem Jahr 2021 - auch auf Basis eines Verfassungsgerichtsurteils - klar und bindend: 2045 soll Deutschland klimaneutral sein. Das bedeutet - historisch einmalig - die Organisation eines Strukturwandels unserer Volkswirtschaft per Termin.

Das erfordert nach einer Studie des Industrieverbands BDI bis dahin kumuliert Mehrinvestitionen von 1,5 bis 2,3 Billionen Euro. Davon müssen den größten Teil die Unternehmen aufbringen. Damit das allerdings zustande kommt, hat der Staat umfangreicher zu investieren und zu intervenieren als sonst.

Das private Engagement verlangt eine so verlässlich gute wie angemessene Infrastruktur und eine passende Anreizregulierung. Es geht nicht um einen gewöhnlichen Strukturwandel, dem der Staat Hemmnisse aus dem Weg zu räumen und Innovationshilfen zu gewähren hat, sondern um einen Umbau des volkswirtschaftlichen Kapitalbestands zur Klimaneutralität. In anderen Worten: Es geht um die Herausforderung nach zwei Jahrhunderten Industrialisierung aus der Verwendung fossiler Energieträger umfassend und endgültig auszusteigen.

Damit wären wir bei der Frage nach der Finanzierung und der nach der Sinnhaftigkeit der starren Schuldenbremse. Denn eine solche Mammutaufgabe kann eine Generation allein nicht aus ihren Einkommen und Steuerzahlungen leisten, weil sie sowohl die Bereinigung der Altlasten als auch die Herstellung der Klimaneutralität sicherstellen muss. Aus dem juristischen Grundsatz "Ultra posse nemo obligatur", nach dem eine nicht erfüllbare Forderung weder moralisch noch rechtlich erhoben werden darf, folgt hier, dass künftige Generationen als Nutzer der realisierten Klimaneutralität an den dazu nötigen finanziellen Lasten zu beteiligen sind.

Die historische Entwicklung der Schuldenquote

Jeder, der das Klimagesetz beachtet, muss erkennen, dass die Generationengerechtigkeit nicht nur fiskalisch über Zins und Tilgung eingeordnet werden muss, sondern zugleich über das Erreichen der Klimaneutralität. Für diese Herausforderung war die Schuldenbremse nicht gedacht. Die seinerzeitigen politischen Debatten waren von der politischen Selbstbezichtigung geprägt, im demokratischen Gruppenstaat fiskalisch nicht nachhaltig handeln zu können.

Die Skepsis der Politik gegen sich selbst wird relativiert, wenn man die historische Entwicklung der Schuldenquote betrachtet. Danach gilt, dass die Entwicklung bis zur Verankerung der Schuldenbremse nicht so dramatisch schlecht war, wie oft unterstellt wird. Tatsächlich hat sich die Schuldenquote abgesehen von der ersten Hälfte der 1970er-Jahre nicht trendmäßig erhöht, sondern in Sprüngen nach exogen "Schocks", konkret der Wiedervereinigung und der Finanzkrise.

Die Schuldenbremse ist aus der Zeit gefallen. Sie muss reformiert werden. Dass maßgebliche Akteure - egal, ob Kanzler und Finanzminister oder Oppositionsführer - diesen Diskurs regelrecht verweigert haben, rächt sich nun. Dabei geht es nicht um strikte Beibehaltung versus völlige Abschaffung der Schuldenregel. Es geht um die Reflexion der Erfahrungen und der besonderen Herausforderung. Die nun fehlenden 60 Milliarden Euro lassen sich über Ausgabenkürzungen allenfalls marginal mobilisieren.

Allein das gewaltige Sozialbudget und der Finanzierungsbedarf für das Zwei-Prozent-Ziel bei den Verteidigungsausgaben sind davor. Steuererhöhungen in entsprechendem Umfang verbieten sich schon angesichts der Wachstumsschwäche, in der unsere Volkswirtschaft festhängt. Mit gerade einmal noch 0,4 Prozent beziffert der Sachverständigenrat das Potenzialwachstum. Das spricht vielmehr für eine investitionsorientierte Steuerreform durch eine Ausweitung der Investitionsprämie und die Abschaffung des Rest-Soli.

Diese Optionen sind jetzt denkbar

Bei allen Einsparungen, die man im Klima- und Transformationsfonds (KTF) vornehmen kann, wird dieses Vehikel benötigt, zumal nach den Unterlassungen früherer Regierungen der Zeitdruck beim Klimaschutz hoch ist und mehr Mittel als veranschlagt benötigt werden. Eine Option ohne Verfassungsänderung bestünde darin, den KTF rechtlich selbstständig zu machen, mit eigener Verschuldungsmöglichkeit.

Denkbar wäre ebenso, die Schuldenbremse mit Blick auf den Klimawandel temporär auszusetzen. Das würde sich vermutlich nicht auf ein einzelnes Jahr beschränken lassen und ist deshalb verfassungsrechtlich kritisch zu sehen. Schließlich ließe sich analog des Sondervermögens Bundeswehr für die fiskalische Erfüllung des Klimagesetzes eine explizite Ausnahme im Grundgesetz verankern. Was keinesfalls geht: ernsthafte Gespräche über eine Reform der Schuldenbremse zu verweigern. Das hat die Politik ins Desaster geführt.

Zum Gastbeitrag auf welt.de

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