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Michael Hüther Gastbeitrag 18. Dezember 2008

Mehr Lametta

Der Mensch will Ursache von Veränderung sein, kann aber den Wandel nur schwer verkraften.

„Früher war mehr Lametta“ so hören wir Loriots Opa Hoppenstedt nölen. „Dieses Jahr bleibt der Baum grün... naturgrün... mit frischen, natürlichen Äpfeln ... naturfrisch und umweltfreundlich ...“, so lautet die Reaktion von Familie Hoppenstedt. Diese Geschichte justiert das Gewöhnliche – das zur Gewohnheit Geronnene – durch groteske Überzeichnung neu. Sie verweist auf einen unvermeidbaren Konflikt, den Veränderungen und der Bedarf an Beständigkeit permanent verursachen. Da reicht offenkundig nicht der Baum, Orientierung gewährt erst der passende Schmuck. Mehr Lametta also?

Die Generationen spaltende Frage, ob früher alles besser war, kann man durch die Weihnachtsepisode bei den Hoppenstedts entkrampfter angehen. Zugleich eröffnet sie einen Zugang, die gesellschaftlichen Schwierigkeiten mit Wandel und Veränderung, mit Reform und Innovation nicht nur aus ökonomischer Perspektive zu erörtern. Der Hinweis auf die allzu menschlichen Bedingungen der Wandlungsfähigkeit, gar der Wandlungsträgheit ist notwendig, will man die Chancen identifizieren, die dem ökonomisch als sinnvoll Erachteten beizumessen sind.

Die Möglichkeit des Wandels ist ohne Kompensation durch Sicherheit nicht darstellbar. Der konkrete Bedarf an Sicherheit ist variabel – abhängig von den historischen Prägungen, den kulturellen Besonderheiten und der Fähigkeit zur Eigenverantwortung. In den drei Zusammenhängen wirken bei uns tendenziell Faktoren, welche die Bereitschaft zum Wandel hemmen. Historisch hat unser Staat in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit umfassenden Leistungsversprechen eine Erwartung der Sicherheit für alle Zukunft begründet und dadurch Enttäuschung programmiert.

Kulturell erscheint bedeutsam, dass unsere Gesellschaft durch das Fluchterlebnis vieler Bürger nach dem Zweiten Weltkrieg zur Sesshaftigkeit neigt und nicht wie Zuwanderungsgesellschaften zur Mobilität. Es war der eine große unfreiwillige Neuanfang prägend, nicht die Erfahrung fortlaufenden Neubeginns. Dies spiegelt sich in der Gestaltung der Immigration, die lange verleugnet, meist als vorübergehend und im Grunde als vermeidbar bewertet wurde. Erst in jüngerer Zeit wird akzeptiert, dass sich mit der gezielten Integration Chancen für unseren Wohlstand verbinden.

Eigenverantwortung schließlich setzt Selbstvertrauen voraus. Dies wiederum erfordert die reife Persönlichkeit, fähig zur autonomen Selbststeuerung in der offenen, demokratischen Gesellschaft. Ein Bildungssystem, das wie das unsere bei der Vermittlung von Kompetenzen durch enorme Probleme und Unterschiede gekennzeichnet ist, trägt dazu nur unzureichend bei. Auch droht die mitunter anzutreffende, der Pisa-Diskussion geschuldete Verengung des Bildungsbegriffs auf den Nutzwert dahin zu führen, die Sozialisation als wichtige Bildungsfunktion zu vernachlässigen.

Indes: Opa Hoppenstedt ist zwar eine recht typisch deutsche Figur und reflektiert damit Besonderheiten, doch der heute geforderte „flexible Mensch“ (Richard Sennett) trifft überall auf Widerstände. Der Wunsch nach mehr Lametta ist sozusagen international.Die erkennbare Ambivalenz des Menschen, einerseits eine bedeutsame Ursache der Veränderung zu sein, andererseits den Wandel nur begrenzt verkraften zu können, ist schon bei Seneca (De brevitate vitae) zu finden: „Ihr fürchtet alles, als wäret ihr nur sterblich; ihr begehret alles, als wäret ihr auch unsterblich.“

Resultiert die Furcht vor dem Wandel aus als überwältigend wahrgenommener Fremdbestimmung und eskalierendem Zeitverlust? Ist es nicht das Gefühl der Heutigen, das Leben zerrinne zwischen den Fingern, das die Bewältigung der Veränderung so schwierig erscheinen lässt? Erleben wir die derzeitige Krise nicht auch als eine Absage an die erzwungene Verschwendung von Lebenszeit? Erweist sich da der Hinweis von Seneca nicht als hilfreich, dass nicht das Leben an sich kurz sei, sondern dass wir es durch Unkonzentriertheit und Oberflächlichkeit kurz machten?

Seneca betont, dass ein gelingendes Leben davon abhängt, ob man seine Zeit gut oder schlecht nutzt. Die Neigung, die Gegenwart zulasten der Zukunft zu unterschätzen, verschenke die Möglichkeit, das Leben für sich zu gewinnen. Denn allein über die Gegenwart können wir sicher verfügen. „Das größte Hemmnis des Lebens ist die Erwartung, die sich an das Morgen hängt und das Heute verloren gibt.“ Man muss den Gedanken nicht verdrehen, um seinen Erklärungsbeitrag für Übertreibung und Habgier zu identifizieren, wie sie durch die Finanzkrise ans Tageslicht kamen.

Wer die Gegenwart für sich verloren gibt, der verliert zugleich die Kraft, nein zu sagen, wenn große, doch unvermeidbar zweifelhafte Wetten auf die Zukunft angeboten werden. Die Neigung, Risiken zu übersehen, wächst. Das Denken in Einbahnstraßen gewinnt die Oberhand. Der Blick hinter die Kulissen unterbleibt. Die Krise an den Finanzmärkten hat neben dem konkreten Versagen vieler Akteure, der Finanzaufsicht und der US-Geldpolitik, sowie Mängeln in der Regulierung letztlich auch diese Fehlentwicklungen aufgedeckt. Was ist die gebotene Antwort?

Die Auferstehung des ehrbaren Kaufmanns in den Reden der Politik und den Kommentaren der Medien belegt den Bedarf, Handlungsorientierung in der Persönlichkeitsbildung zu finden. Insofern ist der Hinweis, Bildung auch auf die Befähigung zum gelingenden Leben zu beziehen, von elementarer Bedeutung. Die Neigung zur Muße und die Kraft zum Nein sind kein Luxus der Vergangenheit, sondern Anforderungen der Gegenwart. Dann muss man nicht nach Ornamenten und Ritualen als Ersatzorientierung suchen – auch wenn früher mehr Lametta war!

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