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Markus Demary auf Ökonomenstimme Gastbeitrag 19. April 2016

Niedrigzinsen: Eine Synthese

Das aktuelle Niedrigzinsumfeld wird kontrovers diskutiert, das heißt meistens kritisiert. Dieser Beitrag von IW-Finanzmarktökonom Markus Demary für den Blog Ökonomenstimme vereint sechs unterschiedliche Sichtweisen auf die Niedrigzinswelt und präsentiert eine Synthese derselben.

Die erste Sichtweise auf das aktuelle Niedrigzinsumfeld geht auf die Österreichische Schule zurück. Nach dieser Sicht halten die Zentralbanken die Zinsen künstlich niedrig, was zu einem späteren Zeitpunkt zu einer hohen Inflation führen werde (Polleit, 2015). Zwar zeigt sich die Inflation aktuell noch nicht in den Güterpreisen, ein Blick auf die Kurse und Renditen von Staatsanleihen gibt dieser Sichtweise aber Relevanz. So sind die Renditen auf Bundesanleihen bis zu einer Laufzeit von 8 Jahren aktuell negativ. Eine Zinswende könnte nach dieser Sichtweise sehr einfach durchgeführt werden, denn sie stellt lediglich eine Korrektur eines bestehenden Politikfehlers in Richtung eines angemesseneren Zinsniveaus dar.

Eine weitere Sichtweise ist die Finance-Sicht, nach der Zinsen überwiegend vom Markt bestimmt werden und die Erwartungen der Marktteilnehmer über die wirtschaftlichen Fundamentaldaten widerspiegeln. Fama (2013) findet in seiner Studie, dass 83 Prozent der Variation der Federal Funds Target Rate auf Variationen anderer kurzfristiger Marktzinsen zurückgeführt werden kann. Der geringe Einfluss der Zentralbank begründet sich in der Finance-Sicht daraus, dass die Zentralbank auf volkswirtschaftliche Daten reagiert, die bereits in den Marktzinsen eingepreist sind. Nach dieser Sicht bestimmt der Markt den Zeitpunkt einer Zinswende und die beste Geldpolitik besteht darin, den Markt nicht negativ zu überraschen. Im Dezember 2015 hat die EZB die Märkte mit ihrer Pressekonferenz enttäuscht und musste deshalb bei ihrer Pressekonferenz im März 2016 nachlegen, um die Märkte zufriedenzustellen. Die Reaktion der Geldpolitik auf die Markzinsen zeigt sich auch in der starken Betonung der Zentralbanken auf die aus Finanzmarktpreisen abgeleiteten Inflationserwartungen anstelle einer Orientierung an den Inflationserwartungen der Realwirtschaft.

Nach der polit-ökonomischen Sicht befindet sich die Zentralbank in einem strategischen Spiel mit der Regierung eines – oder im Falle der EZB – mehrerer verschuldeter Staaten. In diesem Taube-Falke-Spiel bestehen zwei nicht-kooperative Nash-Gleichgewichte. Aktuell befinden sich beide Spieler in einem Nash-Gleichgewicht, in dem die Zentralbank niedrige Zinsen setzt und die verschuldeten Staaten Reformen aufschieben. In diesem Gleichgewicht haben die Staaten keinen Anreiz zu Reformen, denn die Zentralbank würde bei erfolgreichen Reformen den Zins erhöhen müssen, da ansonsten Inflationsdruck durch den Niedrigzins entstehen würde. Das höhere Zinsniveau würde aber die Zinskosten der Staaten erhöhen. Ohne Reformen kann die Zentralbank aber die Zinsen nicht erhöhen, da ihre Geldpolitik dann deflationär wirken würde. Aus der polit-ökonomischen Sicht leitet sich ab, dass die Staaten der Zentralbank über Strukturreformen helfen müssen, aus der Niedrigzinspolitik auszusteigen.

Nach der monetaristischen Sicht sind die Zinsen niedrig, weil die Geldpolitik restriktiv ist. Diese Sichtweise leitet die Restriktivität der Geldpolitik aus der niedrigen Inflation bzw. Deflation her. Die monetaristische Sicht erklärt gut die Entwicklung der Zinsen in den 1970er und den 1980er Jahren. In den 1970er Jahren waren die Zentralbanken in den meisten Industrieländern expansiv. Die Realzinsen waren niedrig und sogar negativ, während die Inflationsraten und damit auch die nominalen Zinsen hoch waren. In den 1980er Jahren wechselten die Zentralbanken auf eine stabilitätsorientierte Geldpolitik, so dass die Nominalzinsen durch sinkende Inflationsraten sanken. Die monetaristische Sicht hat jedoch Schwierigkeiten die Verläufe der Zinsen seit ca. 1990 zu erklären. Denn trotz stabiler Inflationsraten sanken die nominalen Zinsen weiter.

An dem Phänomen der sinkenden nominalen Zinsen trotz stabiler Inflationsraten setzt die Realzins-Sicht an. Aus dieser Sicht haben eine Zunahme des Kapitalangebots und ein Rückgang der Kapitalnachfrage zu einem niedrigen und sogar negativen natürlichen Realzins geführt (Bean et al., 2016). Das höhere Kapitalangebot kann durch die Emerging Markets Savings Glut Hypothese (Bernanke, 2005), die Ersparnis der Baby-Boomer-Generation sowie einer höheren Bedeutung des Alterskonsums durch eine höhere Lebenserwartung plausibilisiert werden (Bean et al., 2016; Weizsäcker, 2014). Rückgänge in der Kapitalnachfrage werden durch ein langsameres Wachstum der Erwerbspersonen erklärt, das bei gleichem pro Kopf Kapitaleinsatz zu einem langsameren Wachstum des Kapitalstocks führt (Bean et al., 2016). Hinzu kommt, dass die Investitionen weniger kapitalintensiv wurden. Zusätzlich verzeichnete sich ein Rückgang der öffentlichen Investitionen (Bean et al., 2016). Nach dieser Sicht führt ein negativer natürlicher Realzins dazu, dass die Geldpolitik in ihrem Expansionsgrad durch die Nullzinsgrenze eingeschränkt ist und sie kaum noch Möglichkeit hat, den realen Leitzins unter den natürlichen Realzins zu drücken. Krugman (1998) weist darauf hin, dass es in einer solchen Liquiditätsfalle äußerst problematisch ist, dass die Zentralbank auf ihrem Inflationsziel beharrt. Denn die Geldpolitik benötigt hohe Inflationserwartungen, um einen stark negativen realen Leitzins zu erreichen. Während die Fed in den Jahren 2011 und 2012 negative Realzinsen erreichen konnte, hat die EZB Schwierigkeiten einen Realzins von unter 1 Prozent zu erreichen. Nach dieser Sicht ist die Geldpolitik der Fed deshalb erfolgreicher als die der EZB, da das Inflationsziel der Fed ein temporäres Überschießen der Inflation zulässt, während das der EZB als Obergrenze wahrgenommen wird.

Es besteht aber noch ein weiterer Grund, warum die Geldpolitik der EZB vor größeren Herausforderungen steht als die der Fed. Dies begründet sich aus der Kredit-Sicht. Während die USA über ein kapitalmarkt-basiertes Finanzsystem verfügen, ist Europa durch ein bank-basiertes Finanzsystem geprägt. So finden in den USA 80 Prozent der Fremdfinanzierung über den Kapitalmarkt statt. Im Vergleich dazu finden in Europa 90 Prozent der Fremdfinanzierung über Bankkredite statt (Demary et al., 2016). Für die USA ist damit die Übertragung der Geldpolitik über den Vermögenspreiskanal bedeutsamer als für Europa, wo die Geldpolitik vor allem über den Bankkreditkanal wirkt. Trotzdem hat die US-Regierung in Folge der Bankenkrise den Bankkreditkanal über konsequente Rekapitalisierungs- und Bilanzbereinigungsmaßnahmen wiederhergestellt, während die Politik im Euroraum es den Banken überließ, auf welchem Weg sie die Rekapitalisierung durchführen. In Zeiten knappen Eigenkapitals und geringer Profitabilität ist dann die Reduzierung der Risikoaktiva der dominante Weg der Rekapitalisierung für Banken. So haben die systemrelevanten Banken des Euroraum ihre risiko-gewichteten Eigenkapitalquoten vor allem über eine Rückführung ihrer Kreditvergabe erreicht, während sie gleichzeitig verstärkt in Staatsanleihen investierten (Demary, 2015). Ohne die Geld- und Kreditschöpfung der Banken kann die Geldpolitik in einem bank-basierten Finanzsystem nicht inflationieren. Nach der Kreditsicht versucht die Zentralbank die Kreditvergabe durch massive Liquiditätsmaßnahmen wiederzubeleben, während Eigenkapital den limitierenden Faktor für die Kreditvergabe darstellt.

In der Summe ist das Niedrigzinsumfeld ein mehrdimensionales Phänomen, zu dessen Erklärung alle diese Sichtweisen beitragen. Sie alle geben auch sinnvolle Ratschläge zum Umgang mit dem Niedrigzinsumfeld. So mahnt die Sichtweise der Österreichischen Schule vor einer zu langen Phase niedriger Zinsen; die Finance-Sicht rät den Zentralbanken durch gute Kommunikation Unsicherheit zu reduzieren und die Märkte nicht negativ zu überraschen; die polit-ökonomische Sicht impliziert, dass die Zentralbanken durch Strukturreformen unterstützt werden müssen; aus der monetaristischen Sicht und der Kredit-Sicht ist die Wiederherstellung des Bankkreditkanals als geldpolitischer Übertragungsweg essentiell und aus der Realzins-Sicht kann abgeleitet werden, dass eine höherer natürlicher Realzins erforderlich ist, um die Problematik aus dem Erreichen der Nullzinsgrenze abzumildern.

Zum Gastbeitrag auf oekonomenstimme.org

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