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Michael Hüther Gastbeitrag 9. März 2006

Lassen Sie sich ruhig durch Fakten irritieren

Die Antwort auf Abstiegsängste liegt nicht in Mindestlöhnen, die Arbeitsplätze und Lebensglück vernichten.

Auch wenn sich die Stimmung verbessert: Die deutsche Gesellschaft ist angesichts von Globalisierung und Reformpolitik durch Abstiegsängste geprägt. Die Regierung will derartige Befürchtungen ernst nehmen. Vieles an ordnungspolitisch fragwürdigen Äußerungen und Bewertungen aus den Reihen des Kabinetts erklärt sich dadurch. Sicherlich ist der Politik mit blutleerer und dadurch lebensfremder Ordnungstheorie nicht geholfen. Der Wert des ökonomischen Kalküls liegt aber darin, den grundsätzlich falschen Weg zu identifizieren und die Konsistenz der Wirtschaftspolitik zu sichern. Dies ist ohne ordnungspolitischen Kompass nicht zu leisten.

Fangen wir mit dem Befund an. Die Abstiegssorgen sind in bestimmten Bevölkerungsgruppen besonders ausgeprägt, sie finden sich aber auch in der gesamten Gesellschaft in Form gedrückter Zukunftsperspektiven. Dabei ist zunächst daran zu erinnern, dass sich entgegen der dominierenden Gefühlslage der Arbeitnehmer die Reallohnposition in den vergangenen zehn Jahren – gespeist aus Lohnerhöhungen und Arbeitszeitverkürzung – um 4,2 Prozent verbessert hat. Der verbreitete Eindruck ist falsch, dass der globalisierte Standortwettbewerb zu einem Sinken der realen Nettolöhne auf breiter Front geführt hat.

Ebenso gilt: Zwar ist die relative Einkommensarmut (weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens in der Gesellschaft) in Deutschland angestiegen. Aber trotz der besonders schwachen gesamtwirtschaftlichen Entwicklung der vergangenen Jahre ist sie merklich unter dem Niveau in der Europäischen Union geblieben. Dabei ist es auch bei den so definierten Armen nicht, wie mitunter in der Öffentlichkeit unkritisch unterstellt wird, zu einem Verlust an Realeinkommen gekommen. Das Gegenteil ist der Fall: Der "typische" Arme (Haushalte, die im Einkommensbereich der Armen genau in der Mitte liegen) hatte 2003 real sechs Prozent mehr zur Verfügung als fünf Jahre zuvor.

Damit soll das Problem der Armut nicht negiert und das sich im Einzelfall damit verbindende Schicksal nicht beschönigt werden. Es relativiert sich aber die von interessierter Seite vorgetragene Dramatik über die Lage in unserem Land. Gleichwohl haben wir gesellschaftliche Gruppen, die in besonderer Weise vom Risiko der Verarmung betroffen sind. Besonders belastet sind die allein erziehenden Mütter mit mehreren Kindern. Hier liegt die Abhängigkeit von der Sozialhilfe (2003) deutlich über dem Durchschnitt. Mangelnde Betreuungsinfrastruktur und unzureichende Arbeitszeitflexibilität erklären nicht unwesentlich diesen Befund, der meist durch geringfügige Beschäftigungsverhältnisse charakterisiert ist.

Die häufig vorgetragene Behauptung der Altersarmut lässt sich dagegen nicht bestätigen. So stellen wir fest, dass – wiederum bezogen auf das relative Armutsmaß – Deutschland bei der Gruppe der älteren Menschen anders als viele Länder in Europa keine höhere Armutsquote aufweist als in der gesamten Bevölkerung. Die Reformen in der gesetzlichen Rentenversicherung haben gleichwohl Ängste einer Verarmung künftiger Rentnergenerationen neu entfacht.

Die These, dass gerade Geringverdiener im Alter zwangsläufig unter die Sozialhilfeschwelle geraten werden, kann nach Berechnungen im jüngst vorgelegten Alterssicherungsbericht der Bundesregierung jedoch nicht bestätigt werden.

Danach wird das Versorgungsniveau bei den Neurentnern zwar zunächst leicht sinken, ab 2015 aber kontinuierlich ansteigen. Das bewirkt zum einen die staatlich geförderte Riesterrente, zum anderen das Sparen, das den Menschen möglich wird, weil die anwachsende Steuerbefreiung der Rentenversicherungsbeiträge das verfügbare Einkommen erhöht. Die Stärkung der kapitalgedeckten Säule gleicht die sinkenden Ansprüche an die Umlagerente mehr als aus. Die zuletzt stark gestiegene Verbreitung privater und betrieblicher Altersvorsorge zeigt zudem, dass die Handlungsnotwendigkeiten erkannt werden.

Die wirklichen Armutsrisiken liegen woanders: gegenwärtig vor allem in der Verhärtung der Arbeitslosigkeit, künftig auch in den Folgen des bildungspolitischen Versagens. Insbesondere Langzeitarbeitslosigkeit erhöht das Armutsrisiko enorm. In Deutschland hat sich die Quote derjenigen Menschen, die mindestens 24 Monate ohne Job sind, seit Anfang der neunziger Jahre versiebenfacht und erreicht das höchste Niveau in der Europäischen Union; die dort entsprechende Quote stagnierte. Dies ist unser eigentliches Problem, denn dadurch wird nicht nur über die Entwertung von Wissen Armut zu einem Dauerproblem. Neue Berechnungen des Instituts der deutschen Wirtschaft in Köln zeigen, dass damit Lebensglück stärker zerstört wird als durch Einkommensarmut. Hingegen führen Niedriglohntätigkeiten auch bei einkommensarmen Haushalten zu einer höheren Lebenszufriedenheit als Arbeitslosigkeit und Einkommensarmut.

Die politisch betriebene Diskussion über "faire Löhne" zur Vermeidung von Armut geht vor diesem Hintergrund in die Irre. Sicherlich hat die Bundeskanzlerin Recht, wenn sie "ordnungspolitischen Unsinn" nicht als ausreichendes politisches Argument gegen Mindestlöhne bewertet. Allerdings muss man auch keine Debatte führen, der jegliche empirische Substanz fehlt.

Grundsätzlich sind die Abstiegsängste übertrieben, das kann man deutlich machen. Dort aber, wo Armutsrisiken bestehen, liegt die Antwort nicht in Mindestlöhnen, die Arbeitsplätze und Lebensglück vernichten. Notwendig ist eine Mobilisierung von Beschäftigungschancen, gerade auch für Geringqualifizierte, die zur Existenzsicherung gegebenenfalls eine staatliche Einkommensergänzung erhalten.

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