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Knut Bergmann im Tagesspiegel Gastbeitrag 27. April 2022

25 Jahre nach Roman Herzogs berühmtester Rede: Vom Ruck zur Zeitenwende

Als Bundespräsident monierte Roman Herzog einst eine mentale Erstarrung der Gesellschaft. Wie sieht es heute damit aus? Hierüber schreibt Knut Bergmann in einem Gastbeitrag für den Tagesspiegel.

Wie wirkungsvoll politische Reden sein können, beweisen die fast täglich über soziale Medien verbreiteten Apelle von Wolodymyr Selenskyj. Hierzulande ist es eher selten, dass die Worte des Präsidenten politisch Wirkung zeitigen. Allerdings reichen die Kompetenzen des ukrainischen Staatsoberhauptes auch erheblich weiter als die seines auf das rein Repräsentative beschränkten deutschen Amtskollegen.

Eine Ausnahme von den unerhörten Reden diverser Bundespräsidenten bildete heute vor 25 Jahren die sogenannte „Ruck-Rede“ – die erste „Berliner Rede“, einem neuen Format, in dem sich der Bundespräsident in Art einer „State oft the Union“ zu einem selbstgewählten Thema äußerte.

An einem aus jetziger Sicht dafür befremdlich anmutenden Ort, im kurz vor seiner Eröffnung stehenden Hotel Adlon, hielt Roman Herzog seinen Landsleuten den Spiegel vor: Ängstlich und erstarrt sei die Gesellschaft, der er eine mentale Depression attestierte. Die wirtschaftliche Dynamik sei verlorengegangen, es fehle „der Schwung zur Erneuerung, die Bereitschaft, Risiken einzugehen, eingefahrene Wege zu verlassen, Neues zu wagen.“ Insgesamt bestehe „kein Erkenntnisproblem, sondern ein Umsetzungsproblem.“

Immer noch verlaufen viele politische Debatten so ritualisiert und in Vertagung des Themas mündend, wie von Herzog damals in „einer Art Sieben-Stufen-Programm“ skizziert. Sicherheitspolitisch wäre derweil eine achte Stufe zu ergänzen, nämlich der verantwortungsdislozierende Ruf nach einer „europäischen Lösung“. Der namensgebende Satz der auf den sozial- und wirtschaftspolitischen Reformstau abzielenden Levitenlesung lautete: „Durch Deutschland muss ein Ruck gehen.“

Reformpolitische Chiffre

Dieser Ruck, der zur reformpolitischen Chiffre eines ganzen Jahrzehnts avancierte, folgte zumindest politisch-rhetorisch sechs Jahre später mit der per Regierungserklärung des Bundeskanzlers verkündeten „Agenda 2010“. Die gerade knapp wiedergewählte rot-grüne Bundesregierung stand mit dem Rücken zur Wand, die Zufriedenheitswerte befanden sich auf einem Tiefpunkt. Dauerhaft über vier Millionen Arbeitslose bedeuteten einen unhaltbaren Zustand, insbesondere für die SPD.

Von der Führungsleistung des mittlerweile über die eigene Partei-Linke hinaus flächendeckend zur Persona non grata erklärten Gerhard Schröder hat die Bundesrepublik lange gezehrt. Der von Bundespräsident Herzog bitter beklagten Massenarbeitslosigkeit wurde nachhaltig abgeholfen; das Versprechen der SPD aus dem Bundestagswahlkampf 1998, dieses Problem konsequent anzugehen, wurde mit einer Legislaturperiode Verspätung tatsächlich erfüllt, wenn auch – anders als links der Mitte erhofft – mit eher konservativ-liberalen Methoden. In den ebenfalls von Herzog angesprochenen Hemmnissen Bürokratieabbau, Staatsgläubigkeit und fehlender Gründergeist kam die Republik indes weder unter Schröder noch seiner Nachfolgerin voran, bedauerlicherweise.

Das Ankommen in der gouvernementalen Wirklichkeit bestand in den Jahren nach 1998 nicht ausschließlich in der Agenda-Politik. Fünf Monate nach der Regierungsübernahme führte die rot-grüne Koalition die Bundeswehr im Kosovo in ihren ersten Kriegseinsatz, vor allem für die Grünen eine Zumutung. Politisch schwerer wogen jedoch die Folgen der Reformen aus der zweiten Legislatur, die das Parteiensystem veränderten. Beides, der – zumal völkerrechtlich zweifelhafte – Waffengang wie der weitreichende Sozialstaatsumbau, konnte nur mit SPD und Grünen in Regierungsverantwortung vollzogen werden. Andernfalls wäre ein oppositioneller Sturm der Entrüstung von links ausgebrochen.

Ertüchtigungsprogramm für die Bundeswehr

Selbiges gilt jetzt: Waffenlieferungen in Kriegsgebiete und ein milliardenschweres Ertüchtigungsprogramm für die Bundeswehr – eine solche Zeitenwende kann wiederum nur der Bundeskanzler einer Koalition mit rot-grüner Beteiligung ankündigen.

Nicht bloß in dieser politisch kontraintuitiven Situation ist eine historische Parallele zu finden. Ebenso war ein Regierungswechsel nach einer vier Legislaturperioden währenden Unions-Kanzlerschaft vorausgegangen, während der die Modernisierungsfreude stetig geschwunden war. Eigentlich wäre die Regierungsrealität für die Ampel-Koalition wegen der zahlreichen, teils selbstauferlegten Fortschrittswagnisse schon hinreichend anspruchsvoll gewesen. Und das, obwohl in den Koalitionsverhandlungen weitgehend ignoriert wurde, was sicherheits- und verteidigungspolitisch an Versäumnissen offen zu Tage lag.

Dass wir die aus dem Aufziehen des Eisernen Vorhangs resultierende Friedensdividende gewissermaßen „verfrühstückt“ haben, wurde lange vor dem Angriff auf die Ukraine vielfach kommentiert. Allein die Verweigerung der SPD, ein knappes Jahr vor der Bundestagswahl Drohnen für die Bundeswehr anzuschaffen mit dem Argument, das Thema sei nicht hinreichend gesellschaftlich diskutiert, zeigt, aus welchen sicherheitspolitischen Träumen einige von Putin geweckt wurden.

Hinsichtlich dieser Missstände hatte es ähnlich der Ruck-Rede einen präsidentiellen Weckruf gegeben. Am letzten Januartag 2014 eröffnete Joachim Gauck die 50. Münchner Sicherheitskonferenz. Viele der Themen, die erst nach der Amtsübernahme von Donald Trump drei Jahre später die breitere Öffentlichkeit erreichten – und die dann meist abwehrend, einer Art hilflosem Erschrecken oder gleich moralischer Empörung erörtert wurden –, benannte der Bundespräsident: Dass die USA ihr globales Engagement schon damals, während der Präsidentschaft Barack Obamas, überdachten.

Die Krise des Multilateralismus, die finanzielle Auszehrung der NATO, die Selbstbeschäftigung Europas, die außenpolitische Bequemlichkeit Deutschlands. Zwar hielt Gauck dem von ihm zitierten Vorwurf mancher Beobachter, sein Land sei ein „Drückeberger in der Weltgemeinschaft“ eine Bilanz der internationalen Bemühungen der Bundesrepublik entgegen, insbesondere in der Entwicklungszusammenarbeit. Genauso formulierte er manche Kritik in Form von Fragen, ein präsidentiell gängiges Verfahren. Sein Fazit lautete jedoch unmissverständlich, dass sich die Bundesrepublik international „früher, entschiedener und substantieller“ einbringen müsse.

Gaucks Mahnung

Das mediale Echo war ähnlich groß wie auf die Ruck-Rede. Alle überregionalen Tageszeitungen machten anschließend mit Gaucks Mahnung auf. Doch obwohl die Herzogs „Ruck“ entsprechende Formel „früher, entschiedener und substantieller“ am Folgetag auf der Sicherheitskonferenz vom damaligen Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier wiederholt und sie danach in Fachkreisen häufig zitiert wurde, verebbte das Thema rasch. Ein unmittelbar nach der Sicherheitskonferenz begonnener Review-Prozess zur deutschen Außenpolitik entfaltete ebenfalls keinerlei Breitenwirkung.

Der politische wie gesellschaftliche Resonanzraum für Außen- und Sicherheitspolitik ist viel kleiner als der für Themen wie Arbeitsplätze und ökonomische Prosperität oder Fragen mentaler Befindlichkeit. Und die Bereitschaft, Dinge zu ändern, ist angesichts klar konturierter Probleme, die jeden unmittelbar selbst treffen können, ausgeprägter als auf einem eher abstrakten Politikfeld und angesichts von Krisen, die vermeintlich jenseits der eigenen Landesgrenzen liegen. Als Gauck in München sprach, standen die russische Annexion der Krim und die Migrationswelle nach Europa der Jahre 2015/16 noch bevor.

Einen Angriffskrieg mitten in Europa, im kulturellen Nahraum, befürchtete damals kaum jemand – wohl nicht einmal Gauck selbst, der nach der Krim-Besetzung wiederholt vor Putins Machtstreben warnte. Darüber gab es in der Folge zwar kleinere Kontroversen.

Die Öffentlichkeit begegnete alldem aber weiterhin mit „freundlichem Desinteresse“, womit ein anderer Bundespräsident, Horst Köhler, einmal das Verhältnis der Deutschen zu ihren Streitkräften umschrieben hatte. Die Überschrift „Packt es endlich an!“ über einem ganzseitigen Artikel, den 1997 zwei Studenten als Reaktion auf Herzogs Rede in einer Wochenzeitung veröffentlichten, hätte nach dem Auftritt Gaucks abwegig oder gar militaristisch geklungen.

Angesichts diverser gesellschaftlicher Debatten, die mit größter Verve und meist noch größerer Empfindlichkeit geführt wurden, gilt für die politische Latenzzeit der Jahre 2014 ff. ein Satz aus der Ruck-Rede: „Wir streiten uns um die unwichtigen Dinge, um den wichtigen nicht ins Auge sehen zu müssen.“ Ähnlich zeitlos Herzogs Urteil über die gesellschaftlichen Eliten aller Bereiche, deren „Fähigkeit und den Willen, das als richtig Erkannte auch durchzustehen“ er vermisste. Die Lage sei zu ernst, um „immer nur den Weg des geringsten Widerstands zu gehen.“

Zum Gastbeitrag auf tagesspiegel.de

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