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Michael Hüther in der Süddeutschen Zeitung Gastbeitrag 28. Juli 2011

Europa neu denken: Kern und Peripherie

Schuldenkrise und Euro-Zweifel gefährden die Union, schreibt Michael Hüther, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln, in der Süddeutschen Zeitung. Rettung können nur unterschiedliche lntegrationsräume bringen.

Europa ist derzeit mit Fragen beschäftigt, die sich um Geld, um viel Geld drehen. Wie kann ein Auseinanderbrechen des Euroraums verhindert oder wie kann das europäische Bankensystem krisenfester gemacht werden? Die Schwierigkeiten der politischen Eliten, eine schlüssige Antwort zu finden, hat nicht nur mit ererbten institutionellen Mängeln der europäischen Verträge und dem Fehlverhalten von Regierungen zu tun. Sichtbar wird zugleich die Überforderung, eine zeitgemäße europäische Geschichte zu erzählen. Es fehlt eine Vorstellung, wohin sich dieses Europa nach all den Integrationsfortschritten und angesichts der leichten Gefährdung des Erreichten entwickeln soll. Diese Ratlosigkeit offenbart einen Mangel an historischer Verankerung. „Und ein Europa ohne Gedächtnis wird nicht lange Europa bleiben" (Timothy Garton Ash).

Dabei gilt, dass die europäische Einigung auf nichts anderes rekurrierte als auf eine Idee. Denn der Beginn der europäischen Geschichte ist ebenso wenig eindeutig wie Europas geografische Gestalt. „Europa betritt die Geschichte durch die Tür der Mythologie", so der Mediävist Jacques Le Goff. Und irgendwie ist es dabeigeblieben. Denn als nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Gründung der Organisation für europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit 1948 und des Europarats 1949, der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten 1950 und der Gründung der Montanunion 1951 die ersten Schritte gemacht wurden, war zwar die Sorge vor der sowjetischen Bedrohung prägend. Doch zugleich wirkte die aus der Erfahrung des Krieges folgende Einsicht, dass die klassischen Instrumente der Friedenssicherung nicht mehr griffen und gesamteuropäische Antworten geboten waren, die übernationale Regelungen und Ordnungen begründen.

Es gab dafür aber kein Muster und keine Referenz, sondern nur das Bewusstsein einer Elite, das geprägt war durch die Erfahrung der Zersplitterung, der Grenzverschiebungen sowie der Konflikte nach dem Ersten Weltkrieg und das getragen war durch eine diffuse europäische Idee aus Antike und Christentum. Damit war ein Europa angesprochen, wie es sich seit dem Frühmittelalter als Kulturraum auf christlich-abendländischem Fundament gebildet hatte.

Dabei war Europa immer von einer Ambivalenz aus widersprüchlichen Bewegungsrichtungen gekennzeichnet: Zum einen die Expansion sowie die gemeinsame Nutzung von Kraftzentren und Potenzialen, wie mit den Handelsbemühungen, den Kreuzzügen oder der Ostwanderung verbunden, zum anderen die Rückbindung, die Abgrenzung und Unterdrückung, die Konflikte im Miteinander. Erstaunlich ist, wie bei allen Brüchen, bei allen Verwerfungen, bei allen Kräfteverlagerungen die kulturell basierte, aber immer auch unbestimmte Idee Europa Überzeugungskraft und Gestaltungswirkung entfalten konnte.

Über die Jahrhunderte wuchs die kulturelle Einheit Europas. Romanik und Gotik, Renaissance und Humanismus, Barock und Aufklärung sind europäische Phänomene. Zugleich war es immer wieder Europa, wo die Vernunft sich von neuem Ausdruck verschaffte – in der antiken Philosophie, in der mittelalterlichen Scholastik, im Humanismus der Renaissance, in der Aufklärung und in den modernen Wissenschaften. Politisch herausragend war die Entstehung frühmoderner Staatlichkeit als Europa spätestens zur Mitte des 15. Jahrhunderts nicht mehr durch einen Herrscher oder in einer Gesamtmonarchie zu ordnen war. Die Christenheit differenzierte sich in Königreiche und Nationen, der Personenverband des Mittelalters als dominierende Gestaltungskraft verschwand. Vor allem Konfessionskriege beförderten die Staatenbildung. Nach dem Höhepunkt dieser Konflikte im 17. Jahrhundert entwickelte sich ein europäischer Zivilisationstypus, der zwei Maximen folgte: Friede durch Recht und Friede durch Säkularisation des Politischen (Westfälischer Friede 1648).

Die darauf beruhenden Ordnungen vermittelten den in Europa lebenden Menschen die Einsicht, einer gemeinsamen Rechtsordnung anzugehören. Zwar war dies nicht der Abschied vom Krieg als Option der Politik, doch wurde dieses Instrument gezähmt und eingehegt durch eine politische Welt der Diplomatie und der Kongresse. Dies bewährte sich mehr oder weniger bis zum Ende des langen 19. Jahrhunderts, das zugleich mit der Bildung von Nationalstaaten, fortschreitender Industrialisierung und aufkeimendem Imperialismus den Grund dafür legte, dass schließlich nach den zwei Fundamentalkonfrontationen im 20. Jahrhundert andere Wege gesucht werden mussten. Erst die tiefe Zäsur des Zweiten Weltkriegs verschaffte den seit der Neuzeit immer wieder formulierten Ideen einer Einheit Europas die Chance der Umsetzung.

Heute blicken wir auf 60 Jahre europäische Integration: „Fast ein ganzes Menschenalter ohne Krieg! Das ist eine Anomalie, auf die dieser Kontinent stolz sein kann", schreibt Hans Magnus Enzensberger: „Kurzum, der Prozess der europäischen Einigung hat unseren Alltag zum Bessern verändert." Doch im Umfeld der schwierigen Suche nach neuen Regeln für die Europäische Währungsunion entsteht zunehmend der Eindruck, dass Europa keine Vision mehr bietet. Diese Perspektivlosigkeit befördert die Zweifel am Projekt Europa. Nur 49 Prozent der Europäer bewerten die Mitgliedschaft ihres Landes in der EU positiv und nur 42 Prozent vertrauen den europäischen Institutionen. Angesichts ökonomischer Probleme verliert Europa an Überzeugungskraft.

Dennoch wirkt das kulturelle Erbe Europas. Ohne ein gemeinsames Grundkapital an kulturellen Werten wäre die Schaffung einer Europäischen Union, wie wir sie heute kennen, unmöglich gewesen. Das Band, welches die Europäer eint, ist eben jener christlich-neuhumanistische Geist. Wer das kulturelle Erbe Europas mobilisieren will, der muss zuerst die Integration räumlich begrenzen. Der Beitritt immer neuer Kandidaten zur Europäischen Union verändert zusehends deren Qualität. Eine politische Union, die deutlich über das hinausgeht, was mit der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik sowie die Zusammenarbeit bei Strafsachen erreicht wurde, lässt sich nicht in einem Raum realisieren, der vom Atlantik bis zum Ural geht. Gleichzeitig wird niemand die erreichte Integration und die Befriedung dieses Raums gefährden wollen. Der Ausweg kann nur in einem Europa unterschiedlicher Integrationsräume liegen. Wir müssen den Mut aufbringen, Kerneuropa unter Anbindung an frühe Einigungsschritte als Vision neu zu denken und damit als Vehikel für die politische Einigung zu sehen, um zugleich die heutige Union als ökonomische Zweckgemeinschaft stabilisieren zu können. Drei Schritte weisen in diesem Sinne nach vorne:

(1) Die Gestaltung differenzierter Integrationsräume ist keine Absage an die jüngeren und peripheren Mitglieder der Union, sondern bietet die Chance einer realistischen Gestaltung angesichts unterschiedlicher Ausgangspositionen und nationaler Präferenzen. Dabei lassen sich auch für den großen Integrationsraum stärkere Verbindungen schaffen, indem jene Politikbereiche, die über nationale Interessen weit hinausgehen und regionsweite externe Effekte generieren – wie Verteidigung und Infrastrukturnetze –‚ in gemeinsamer Verantwortung organisiert werden. Dafür sind spezielle Finanzierungen begründbar, eine europäische Steuer für die Verteidigung und Eurobonds für die Infrastruktur.

(2) Die Entwicklung dieser Potenziale setzt sich in der gemeinsamen Währung fort. Europa benötigt diese Grundlagen wirtschaftlicher und politischer Stärke, um weltpolitisch nicht von einer G 2 aus USA und China marginalisiert zu werden. Nur Europa, aber kein einzelnes Mitglied, kann in diesem Konzert glaubwürdig und kräftig seine Stimme erheben. Nur so wird daraus G 3. Wir können es uns deshalb nicht mehr leisten, diplomatisch als Europäer zu versagen, wie es angesichts der revolutionären Bewegungen in Nordafrika der Fall war.

(3) Die Bildung eines Kerneuropas um Frankreich und Deutschland als Teil des großen Integrationsraums und damit die Stärkung des Zentrums (Herfried Münkler) ist die besondere Herausforderung unserer Zeit. Dies wird nur gelingen, wenn das Potenzial kultureller Gemeinsamkeiten neu bewertet wird. Europa steht trotz seiner Vergangenheit voller Konflikte zugleich für das Bemühen um Frieden. Friede durch Recht und Friede durch Säkularisation des Politischen, Aufklärung, Vernunft und Freiheit, kulturelle Vielfalt und politische Differenzierung haben unverändert eine hohe Strahlkraft, weil sie die geronnene Erfahrung eines historischen Raums präsentieren und nicht als allfällige politische Topoi daherkommen. Europa ohne kulturelle Dimension verstehen und gestalten zu wollen, wird jedenfalls dauerhaft nicht gelingen können. Auch das ist eine Botschaft der gegenwärtigen Krise.

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