Bundeskanzlerin Merkel hat ihre Vision für die Zukunft der Eurozone vorgestellt. Anders als Frankreichs Staatspräsident Macron ist sie deutlich zurückhaltender. Ein Vorschlag von ihr hat besondere Brisanz. Eine Analyse von IW-Ökonom Jürgen Matthes.
Merkels Pläne für die Zukunft der Eurozone: Milliardenhilfen, auch wenn EU nicht bedroht ist?
Lange hat man im In- und Ausland darauf gewartet. Nach den ambitionierten Plänen von Frankreichs Präsident Macron zur Weiterentwicklung der Europäischen Währungsunion (EWU) hat nun auch Bundeskanzlerin Merkel Position bezogen. Für die Euro-Skeptiker geht sie mit der Ankündigung neuer EWU-Töpfe schon viel zu weit, für die Befürworter weiterer EWU-Integration stellt sie gerade einmal einen Tropfen auf den heißen Stein in Aussicht – gemäß dem üblichen Vorwurf gegenüber der deutschen Regierung „too little, too late“.
Doch will sie etwas bewegen und Deutschland handlungsfähig machen, ist ein gewagter Spagat zwischen Außen- und Innenpolitik unvermeidlich. Denn die Positionen liegen weit auseinander, auf der einen Seite stehen die hohen Ansprüche aus Paris und Brüssel an großzügige Zugeständnisse aus Berlin, auf der anderen Seite die roten Linien von einflussreichen Teilen ihrer eigenen Bundestagsfraktion.
Merkels Pläne für einen europäischen Währungsfonds
Richtig an Merkels Vorschlägen ist vor allem, den Euro-Rettungsschirm ESM zu einem Europäischen Währungsfonds (EWF) auszubauen, der auch ohne den IWF zusammen mit der EU-Kommission eigenständig handeln kann. Damit ist gemeint, dass der EWF selbst Schuldentragfähigkeitsanalysen durchführen sowie Hilfs- und Reformprogramme aufsetzen und überwachen kann. Bislang sind hier neben der EU-Kommission auch IWF und EZB mit im Boot (die „Institutionen“, früher die „Troika“).
Ebenso gutzuheißen ist die klare Ansage Merkels, den EWF als zwischenstaatliches Arrangement beizubehalten, über das die nationalen Parlamente wachen. Sie erteilt damit dem – von der EU-Kommission geforderten und auch im Koalitionsvertrag niedergelegten – Ansinnen eine Absage, den intergouvernemental verankerten ESM/EWF in das europäische Regelwerk zu integrieren.
Zwar wäre dieser Schritt aus institutioneller Sicht eigentlich grundsätzlich wünschenswert, weil der ESM/EWF eine wichtige Säule der EWU-Krisenstruktur bildet. Doch ist bei diesem Schritt zu befürchten, dass sich die politischen Institutionen in Brüssel zu stark einmischen. Denn über das Europäische Parlament oder die EU-Kommission könnten sich Reformwiderstände in den Krisenländern leicht einen politischen Weg bahnen. Damit wäre eine Aufweichung der Konditionalität (Reformauflagen) absehbar, die untrennbar zum ESM-Konzept „Hilfe gegen Reformen“ gehört. Auch gibt es in Brüssel das Ansinnen, die Abstimmungsregeln des ESM zu verändern, die bislang ein deutsches Veto und ein Durchgriffsrecht des Deutschen Bundestages ermöglichen. Merkel tut also gut daran, der EU-Kommission keinen Zugriff auf den EWF geben zu wollen.
Hilfe für Euro-Staaten in Schwierigkeiten
Ein Zugeständnis an Paris und Brüssel macht Merkel, wenn sie eine neue kurzfristige Kreditlinie des EWF zur Konjunkturstabilisierung „gegen Auflagen, in begrenzter Höhe und mit vollständiger Rückzahlung“ in Aussicht stellt. Bislang dürfen (langfristige) ESM-Kredite grundsätzlich nur vergeben werden, wenn eine tiefe Krise in einem Euroland auch eine Gefahr für die EWU insgesamt darstellt. Daher schlägt die Bundeskanzlerin vor, dass die EWU auch einzelnen EWU-Staaten helfen können soll, wenn diese Länder durch exogene Schocks („äußere Umstände“) in Schwierigkeiten geraten.
Dieser Vorschlag dürfte bei Teilen der CDU-Bundestagsfraktion wohl auf große Skepsis stoßen. Denn dabei ist ein klarer Zusammenhang zu erkennen zu dort skeptisch kommentierten Vorschlägen der EU-Kommission, die erst jüngst eine zentrale europäische Investitionsstabilisierungsfazilität (EISF) in den Raum gestellt hat.
Kritisch dürften manche EU-Skeptiker auch das vorgeschlagene EWU-Investivbudget sehen. Hier ist eine differenzierte Betrachtung nötig. Positiv zu werten ist, dass Merkel den Investitionsfokus Macrons weg von der Stabilisierung und hin zur Allokation lenken will, indem sie zusätzliche Mittel „im unteren zweistelligen Milliardenbereich“ für die Strukturförderung in Aussicht stellt. Damit sollen vor allem technologieschwache Euroländer in ihrer Innovationsfähigkeit gefördert werden, um so die Konvergenz im Euroraum nachhaltig zu stärken. Doch bleibt unklar, wie die neuen Gelder zu der bisherigen EU-Strukturförderung stehen sollen, deren Wirkung von zahlreichen Studien unterschiedlich und teils recht kritisch bewertet wird. Für eine effektive Verwendung muss also – wie Merkel auch vorschlägt – eine kritische Evaluierung stattfinden.
Kommt ein Staatsinsolvenzverfahren?
Damit die kritischen innenpolitischen Stimmen die Kröten – also die zusätzlichen Mittel für die beiden vorgenannten Hilfsinstrumente – schlucken, begrenzt Merkel einerseits deren Volumen. Vor allem aber greift sie eine schon lange vorgetragene Forderung vieler Experten auf: Der EWF soll „über geeignete Instrumente verfügen“ die Schuldentragfähigkeit von Krisenstaaten „falls notwendig, auch wiederherzustellen“.
Hinter diesen wohl gewählten Worten dürft sich ein Staatsinsolvenzverfahren verbergen. Damit soll die Nichtbeistandsklausel im EU-Vertrag wieder zur Geltung gebracht, Privatgläubiger an Staatspleiten beteiligt und so auch die Disziplinierungsfunktion des Finanzmarktes gestärkt werden. Das ist wichtig und richtig, auch wenn ein solcher Insolvenzmechanismus sicher erst mittelfristig eingeführt werden kann. Für Paris und Brüssel ist dieses Thema aber ein rotes Tuch, weil man dort fürchtet, dass ein solcher Schritt die Finanzmärkte zu nervös machen könnte.
Damit ist aber auch klar: Wenn diese feine Balance von Zugeständnissen und Zumutungen für Integrationsskeptiker und -befürworter von einer Seite nicht akzeptiert wird, fällt der ganze wohlziselierte Kompromiss gleich wieder in sich zusammen.
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