Der EU-Austritt des Vereinigten Königreichs ist nahe. Allerdings wird sich danach ersteinmal nicht viel ändern, da eine Übergangsphase in Kraft tritt. Die Gefahr eines harten Brexits ist aber nicht gebannt, schreibt IW-Ökonom Jürgen Matthes auf Focus online.
Die Briten treten aus – wie es jetzt weitergeht
Allerdings ändert sich im Alltag zunächst einmal so gut wie nichts. Denn im Austrittsabkommen ist eine Übergangsphase vereinbart, die sofort nach dem Austritt in Kraft tritt. Damit wird in den kommenden Monaten bei Reisen ins VK weiterhin kein Visum nötig sein. Es wird keine Zölle für deutsche Exporte geben. Und Studenten können wie bislang in London und andern Städten studieren und von Vorzugsbedingungen bei Studiengebühren profitieren. Das VK muss zudem weiterhin alle EU-Vorschriften befolgen.
Wann endet die Übergangsphase und was kommt danach?
Die Übergangsphase endet am 31. Dezember 2020. Es gibt zwar eine Verlängerungsoption um bis zu 2 Jahre. Doch Premierminister Johnson hat mit seiner komfortablen Mehrheit im britischen Parlament per Gesetz festschreiben lassen, dass es keine Verlängerung geben wird. Er will auch mit Blick auf die EU-Vorschriften endlich frei sein, getreu dem Motto „We want to take back control“.
Ohne Verlängerung droht Ende 2020 allerdings erneut Gefahr. Denn wenn bis dahin kein neues Abkommen über die zukünftigen wirtschaftlichen Beziehungen in Kraft tritt, würde wieder die Angst vor einem No-Deal-Brexit und einem „Cliff-Edge“ umgehen. Über Nacht könnten Zölle, Grenzkontrollen und Visapflichten drohen. Zudem würde zeitweise wirtschaftliches Chaos ausbrechen, weil verbreitet Rechtsunsicherheit über geltende Regeln herrschen würde. Damit könnten bei deutschen Firmen mit viel Handel mit dem VK möglicherweise Arbeitsplätze in Gefahr geraten. Zudem würde es wohl zu einer Pfund-Abwertung kommen; das würde es zwar für uns billiger machen, nach London zu reisen, aber die Waren deutscher Exporteure im VK verteuern.
Die Uhr tickt also – und es ist höchste Zeit für den Beginn von Verhandlungen über die Zukunft. In Brüssel plant man derzeit offenbar, dass es Anfang März losgeht.
Aber was ist überhaupt bis Ende 2020 möglich?
Beide Seiten streben grundsätzlich ein modernes, ehrgeiziges und umfassendes Freihandelsabkommen (FHA) an. Es müsste wohl bis spätestens Ende November ausgehandelt sein, damit es auch auf EU-Seite noch rechtzeitig vom Rat und Europäischen Parlament beschlossen werden kann. Schon jetzt ist aber klar: Auch bei schnellen und effizienten Verhandlungen wird nicht alles Wünschenswerte bis Ende 2020 verhandelbar sein.
Zwar wird man sich sehr wahrscheinlich einigen können, im Warenhandel Zoll- und Quotenfreiheit beizubehalten. Damit hätte man aber gerade einmal den Kern eines modernen FHA beschlossen. Erst die Einbeziehung weiterer Elemente macht daraus ein ehrgeiziges und umfassendes FHA - wie es etwa CETA zwischen der EU und Kanada ist.
Zur wichtigen Garnitur moderner Abkommen gehören zum Beispiel Regeln für vorübergehende Arbeitsaufenthalte, etwa wenn deutsche Maschinen im Ausland gewartet werden sollen. Auch die gegenseitige Anerkennung von Berufsqualifikationen oder von Zertifizierungen von Produktstandards im Partnerland zählen dazu. Bei den EU-VK Verhandlungen kommen zudem einige weitere wichtige, aber komplizierte Themen aufs Tapet. Für die Briten sind Finanz- und Unternehmensdienstleistungen besonders wichtig, weil das VK hier einen Handelsüberschuss mit der EU und deutliche Spezialisierungsvorteile hat. Die EU strebt ihrerseits Vereinbarungen zum sogenannten „Level Playing Field“ an. Sie will verhindern, dass das VK quasi zu einem deregulierten Singapur an der Themse wird und der EU einen Unterbietungswettbewerb liefert, sei es bei Arbeits-, Sozial- und Umweltstandards oder bei Subventionen und Wettbewerbsrecht. Außerdem wollen beide Seiten politische Abkommen zu wichtigen Themen wie Terrorbekämpfung, Innen-, Außen- und Verteidigungspolitik.
Was bedeutet die harte Deadline Ende 2020 also für die Verhandlungen und die Strategie der EU?
Die Verhandlungen über all diese komplexen Themen werden schwierig und daher viel Zeit in Anspruch nehmen. Nur ein kleiner Teil wird bis Ende 2020 final verhandelt sein können.
Damit lassen sich folgende Schlussfolgerungen ziehen:
- Bis Ende 2020 wird vermutlich nur ein rudimentäres Warenhandelsabkommen mit der ein oder anderen Ergänzung möglich sein.
- Es wird weitere Teilabkommen geben müssen, die erst nach 2020 zu Ende verhandelt werden können.
- Für diesen Rest wird in wichtigen Bereichen eine Verlängerung der Übergangsphase nötig sein, um hier ein Cliff-Edge zulasten der Wirtschaft zu vermeiden.
- Die EU sollte nicht den gleichen Fehler wie bei der Schweiz machen. Hier haben beide Seiten den zweiten Abkommens-Teil in sehr viele Einzelabkommen aufgeteilt, die erst nach und nach verabschiedet wurden. Das macht das Abkommens-Sammelsurium heute sehr unübersichtlich. Daher sollte die EU auf ein umfassendes zweites Teilabkommen drängen, das alle übrigen Teile zusammenbindet.
- Damit die EU im zweiten Verhandlungsteil am längeren Hebel sitzt, sollte sie die Verhandlungen über den Zugang des VK zum EU-Markt bei Finanz- und Unternehmensdienstleistungen nicht schon 2020 finalisieren, sondern in die zweite Phase verlagern. Das ist gut zu begründen, weil Finanzdienstleistungen bei bisherigen FHA der EU kaum verhandelt wurden, man also weitgehend Neuland betritt. Da das VK besonders am Dienstleistungshandel interessiert ist, hätte die EU nach 2020 wohl gute Karten, um im Gegenzug ihre Wünsche beim Level Playing Field weitgehend durchzusetzen. Ohnehin hat sie ja den wesentlich größeren Markt zu bieten und das VK ist deutlich abhängiger von der EU als umgekehrt. Rund 45 Prozent der britischen Exporte an Waren und Dienstleistungen gingen 2018 in die EU, umgekehrt waren es gerade einmal 6,6 Prozent.
Ausblick: Nix ist fix beim Brexit
Wenn diese Erkenntnisse auch in London durchsickern, wird es ja vielleicht doch noch eine Verlängerung der Übergangsphase über 2020 hinaus geben. Das britische Gesetz zum Ende dieser Phase lässt sich jedenfalls mit einfacher Mehrheit ändern. Es wäre nicht die erste Überraschung beim Brexit-Prozess.
Zum Gastbeitrag auf focus.de
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