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(© Foto: Jaap2/iStock)
Judith Niehues auf Zeit Online Gastbeitrag 4. September 2017

Einkommensverteilung: Die Mittelschicht ist stabiler als ihr Ruf

Im Wahlkampf kommt die Debatte über die Mittelschicht wieder hoch. Ob sie schrumpft, ist eine Frage der Definition, und davon gibt es viele. Halten wir uns an die Fakten. Ein Gastbeitrag von IW-Ökonomin Judith Niehues, erschienen auf Zeit Online.

Die Mittelschicht steht vor wichtigen Wahlen immer besonders im Fokus – schließlich werden sie in der Mitte gewonnen. Doch die Mitte schrumpft angeblich stetig, wie immer wieder zu hören und lesen ist. Zuletzt hat unter anderem der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher, in einem Gastbeitrag bei ZEIT ONLINE diese These vertreten. Demnach verkleinere sich die Mittelschicht seit 1995, auch nach 2005 habe sie weiter abgenommen. Insgesamt sei ihr Anteil an der Bevölkerung zwischen 1995 und 2015 von 48 Prozent auf 41 Prozent gesunken. Doch so eindeutig, wie diese Zahlen es suggerieren, ist die Entwicklung längst nicht.

Die Schwierigkeiten beginnen schon bei der Definition. In den Sozialwissenschaften wird die Mittelschicht häufig über Faktoren wie Bildung oder Wertevorstellungen definiert. Wenn Ökonomen von der Mittelschicht reden, meinen sie hingegen in der Regel die Bevölkerungsgruppe mit mittlerem Einkommen. Die Festlegung der Einkommensgrenzen ist dabei jedoch sehr unterschiedlich. Dem Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung zufolge gehört zur Mittelschicht, wer mehr als 60 Prozent, aber weniger als das Doppelte des mittleren Einkommens – des sogenannten Medianeinkommens – verdient. Mit anderen Worten: Jeder, der weder armutsgefährdet noch besonders reich ist. Im Jahr 2014 traf das auf gut drei Viertel der Menschen in Deutschland zu.

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Das DIW zählt dagegen häufig alle Haushalte mit einem Einkommen zwischen 70 Prozent und 150 Prozent des Medianeinkommens zur Mittelschicht. In seinem Gastbeitrag bezieht sich DIW-Chef Fratzscher allerdings auf eine noch engere Definition: Sie erfasst Haushalte, deren Einkommen zwischen 77 und 130 Prozent des Medianeinkommens liegen. Das Institut der deutschen Wirtschaft setzt die Grenzen wiederum bei 80 und 150 Prozent des mittleren Einkommens, da Analysen gezeigt haben, dass gerade in diesem Bereich besonders viele Haushalte mit mittelschichtstypischen Berufen und Bildungsabschlüssen vertreten sind. Je nach Definition umfasst die Mittelschicht somit mal einen größeren, mal einen kleineren Teil der Bevölkerung.

Weitgehend unabhängig von der jeweiligen Definition lassen sich aber Aussagen über die allgemeine Entwicklung der Mittelschicht treffen. Beginnend mit der Wiedervereinigung lässt sie sich grob in drei Phasen einteilen: Bis 1997 stieg der Anteil der Mittelschicht im Zuge des ostdeutschen Aufholprozesses etwas an, danach folgte eine Phase des Schrumpfens, die bis zum Jahr 2005 andauerte – insbesondere bedingt durch die verstärkte globale Arbeitsteilung und den damit einhergehenden zunehmenden Druck auf gering qualifizierte Beschäftigte. Seitdem ist der Anteil der Mittelschicht sehr stabil, die geringfügigen Veränderungen in den Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP), auf dem die meisten Studien zu dem Thema basieren, sind statistisch nicht signifikant und beruhen weitgehend auf Veränderungen der Stichprobe des Panels. Seit dem Jahr 2005 – also der SOEP-Erhebung aus dem Jahr 2006 – hat sich die Größe der Mittelschicht nicht mehr verändert.

Von Armut bedroht sind vor allem Migranten

Auch die Begründung für das angebliche Schrumpfen der Mittelschicht in den letzten Jahren, die Zunahme atypischer Beschäftigung, trägt nicht. Denn atypische Beschäftigungsverhältnisse wie Zeitarbeit, befristete Anstellungen und Teilzeitjobs waren zwar ebenfalls um die Jahrtausendwende auf dem Vormarsch, haben aber in den letzten Jahren nicht mehr zugenommen. Im Gegenteil: Seit 2010 ist ihre Zahl rückläufig. Zugleich zeigen die Daten, dass die Lohnungleichheit zuletzt eher abgenommen hat – sogar bereits vor der Einführung des Mindestlohns. Nachdem lange Zeit insbesondere die oberen Lohngruppen überdurchschnittliche Zuwächse verbuchen konnten, haben die unteren Lohngruppen in den letzten Jahren aufgeholt. Der Arbeitsmarkt sorgt also derzeit eher für Angleichung als für Polarisierung.

Mit der Diskussion um die Mittelschicht verbunden ist die These einer zunehmenden Armutsgefährdung. Spätestens, seit die soziale Gerechtigkeit zum Wahlkampfthema gemacht wurde, ist die Debatte darüber neu entbrannt. Doch auch bei der Armutsgefährdung lohnt sich eine genaue und differenzierte Betrachtung: In der Tat hat die Zahl der Menschen, die von Armut bedroht sind, seit etwa 2010 wieder leicht zugenommen. Allerdings deutet vieles darauf hin, dass der vorübergehende Anstieg vor allem auf die gestiegene Zuwanderung zurückzuführen ist.

Nach einer Analyse des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung geht die Erhöhung der Armutsgefährdungsquote weitgehend auf einen Anstieg des Armutsrisikos der Bevölkerung mit Migrationshintergrund zurück. Das Armutsrisiko der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund hat sich in den letzten Jahren kaum verändert – und ist im vergangenen Jahr sogar gesunken, wie aktuelle Daten des Statistischen Bundesamts zeigen. Dabei steigt die Einkommensschwelle, unter der eine Person als armutsgefährdet gilt, stetig an: Da sich das Medianeinkommen unter Berücksichtigung der Inflation seit 2010 um 9,2 Prozent erhöht hat, musste ein Alleinstehender im Jahr 2016 – ebenfalls inflationsbereinigt – 76 Euro mehr im Monat zur Verfügung haben, um nicht als armutsgefährdet zu gelten.

Dass die gestiegene Kaufkraft im unteren Einkommensbereich angekommen ist, zeigen auch andere Befragungen: Der Anteil derjenigen, die ihre wirtschaftliche Situation subjektiv als schlecht oder sehr schlecht bezeichnen, hat sich in den letzten Jahren stetig auf derzeit rund 8 Prozent der Bevölkerung reduziert. Denjenigen, die – aus unterschiedlichsten Gründen – nicht vom Aufschwung profitiert haben, ist mit einer verzerrten Darstellung der Fakten am wenigsten geholfen.

Zum Gastbeitrag von IW-Ökonomin Judith Niehues auf zeit.de

Zum Gastbeitrag von DIW-Präsident Marcel Fratzscher auf zeit.de

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