Die wirtschaftliche Entwicklung im Osten Deutschlands weist Licht und Schatten auf. Nachholbedarf gibt es vor allem auf dem Arbeitsmarkt.
In den neuen Ländern hat die Industrie Fuß gefasst
Zwanzig Jahre Mauerfall lösen nicht so richtig große Freude aus. Viele lassen auch den berechtigten Stolz auf das Erreichte vermissen. Haben wir uns den unbefriedigenden Befund, der vor zehn Jahren zu erheben war, so sehr zu Herzen genommen? Tatsächlich verbinden sich mit zwanzig Jahren wirtschaftlicher Wiedervereinigung sehr extreme Erwartungen und Bewertungen. Aus den „blühenden Landschaften“ mit größten Hoffnungen für die kurze Frist wurde nach einer Dekade das „Mezzogiorno“ mit unbefriedigenden Aussichten für die lange Frist.
Wo wir heute wirklich stehen, scheint nicht recht zu interessieren. Zumindest erweckt die Frage nach der Befindlichkeit der Ostdeutschen und Westdeutschen im Jahr 20 nach dem Fall der Mauer mehr Aufmerksamkeit als ein nüchterner Blick auf den Fortgang der wirtschaftlichen Angleichung und der Ausbildung neuer wirtschaftlicher Strukturen in den östlichen Bundesländern. Um es vorwegzunehmen: Der Konvergenzprozess ist im Ganzen betrachtet ein Erfolg. Was freilich nicht bedeutet, dass alles bestens sei und nichts im Argen liege. Damit zu den Fakten.
Heute liegt die Wirtschaftsleistung je Einwohner in den neuen Bundesländern bei 70 Prozent des westdeutschen Niveaus. Zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung lag dieser Wert gerade mal bei einem Drittel. Das war nicht nur in einer Übernutzung der Infrastruktur, einer Ausbeutung der Umwelt sowie einer Fehlbildung des Kapitalstocks im Osten begründet, sondern hatte tiefe Ursachen auf Ebene der Betriebe. Die Abschottung nach außen verhinderte eine Einbindung in die internationale Arbeitsteilung und damit eine Orientierung an wichtigen Innovationsfeldern.
Die Kombinate der DDR ließen nicht nur flexible und anpassungsfähige Wertschöpfungsketten vermissen, sondern waren durch extreme Starrheit infolge eines umfänglichen Insourcing geprägt. Die große Fertigungstiefe stand ganz im Gegensatz zum marktwirtschaftlichen Denken. Denn in dezentral über Märkte gesteuerten Volkswirtschaften ist die Veränderung der Produktions- und Lieferketten eine ständige Aufgabe. Gesamtwirtschaftlich bedeutsam führt sie zu neuen Vorleistungs-, Wissens- und Produktionsverbünden, die andauernd Impulse zu Innovationen geben.
Angesichts dieser Startposition ist die heute erreichte Angleichung der Wirtschaftskraft beachtlich. Dieser Befund wird erst recht durch die internationalen Erfahrungen mit Konvergenzprozessen bestätigt. Generell sind die empirisch begründeten Prognosen über die Angleichungsgeschwindigkeit unterschiedlicher Wirtschaftsräume nicht euphorisch. Zurückgehend auf Studien von Robert Barro für die Nordstaaten und die Südstaaten der USA wird dafür eine Rate von jährlich zwei Prozent als realistisch eingestuft. Die Annäherung des Bruttoinlandsprodukts je Einwohner zwischen Ost- und Westdeutschland vollzog sich hingegen mit 4,4 Prozent pro Jahr.
Hinter diesem allgemeinen Ergebnis verbergen sich freilich Licht und Schatten. Erfreulich ist die starke Expansion der Industrie, die über alle neuen Länder betrachtet wieder einen Wertschöpfungsanteil von 20 Prozent erreicht. Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt weisen sogar mitunter deutlich höhere Anteile auf und liegen nicht mehr weit vom westdeutschen Niveau entfernt. So manifestiert sich eine erfolgreiche Re-Industrialisierung der neuen Länder, die damit vor Frankreich, Großbritannien und den USA liegen. Zugleich zeigt sich eine zunehmende Differenzierung der Länder, wie es für fortgeschrittene Entwicklungsprozesse typisch ist.
Einen Schatten wirft unverändert die Arbeitsmarktlage, wenngleich die Arbeitslosigkeit mit aktuell rund 12 Prozent deutlich zurückgegangen ist und die Krise vor allem in Westdeutschland zu Entlassungen führt. Die Entstehung wettbewerbsfähiger Arbeitsplätze ist nun mal ein langwieriger und mühsamer Prozess. Zugleich wird erkennbar, wo Defizite zu bearbeiten sind. Die durchschnittlich geringere Unternehmensgröße im Osten beeinträchtigt sowohl die Innovationsfähigkeit, weil die Kapitalbasis schmaler ist, als auch die Internationalisierung. Hier sollte die Politik auch künftig über eine gezielt ausgestaltete Investitionsförderung ansetzen.
Eine spezifische Wirtschaftspolitik für die neuen Länder aber ist nicht mehr notwendig. Im Jahr 2020 dürfte die ostdeutsche Wirtschaftsleistung pro Kopf rund 80 Prozent der im Westen erreicht haben. Der Solidarpakt II kann und muss verlässlich sein, ebenso die Aussage, dass es keine Nachfolgelösung geben wird. Die zunehmende Differenzierung der regionalen wirtschaftlichen Entwicklung dezentralisiert zugleich die Standortverantwortung. Der Bund kann sich zurücknehmen. Damit entfällt aber auch die letzte Begründung für den Solidaritätszuschlag. Jede Steuerstrukturreform muss dies berücksichtigen. Mal sehen, wie weit der Mut der Bundesregierung trägt. Hoffnung konnte man dafür bisher nicht gewinnen.
Artikel im Original
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