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Michael Hüther Gastbeitrag 17. Mai 2007

Gerechtigkeit neu definieren

Welche Lehren die Politik aus der Bremen-Wahl ziehen sollte – und welche Vorurteile sie überwinden muss.

Man kann das Bremer Wahlergebnis vom letzten Sonntag als politisch nachrangig abtun. Es handelt sich schließlich um das kleinste Bundesland, das noch dazu in einer Haushaltsnotlage ist. Zudem ist es nicht untypisch in Zeiten einer großen Koalition auf Bundesebene, dass die politischen Ränder gestärkt werden, die Volksparteien an Zustimmung verlieren. So weit nicht unplausibel. Doch am Wahlabend und in der nachfolgenden Kommentierung war der Hinweis zu hören, das Wählervotum artikuliere das gestiegene Bedürfnis nach sozialer Gerechtigkeit, das von Seiten der Politik nicht mehr befriedigt würde.

Dass der Begriff der sozialen Gerechtigkeit dabei unerklärt bleibt, kann man in der politischen Debatte als geschenkt unterstellen. Schließlich – so einfach kann man sich die Welt zimmern – herrscht das Vorurteil, seit 25 Jahren werde Sozialabbau betrieben, mit seiner Krönung in den Hartz-Gesetzen. Schreiende Ungerechtigkeiten hätten sich am vergangenen Sonntag in stumme Wählerstimmen verwandelt. Schon beginnen die Volksparteien, um ihre strukturellen Voraussetzungen bangend, über neue Gerechtigkeitslücken zu räsonieren, die nach zusätzlichen staatlichen Ausgaben rufen. Was heißt überhaupt Gerechtigkeitslücke? Lässt die Gerechtigkeit eine Lücke, oder hat man ihr eine gelassen? Letzteres wäre kaum bedenklich.

Nun wird man öffentlich keine philosophischen Erörterungen über Gerechtigkeit führen können, aber eine Begriffsklärung sollte schon versucht werden. Bei der Frage nach der Gerechtigkeit im gesellschaftlichen Miteinander wird man schnell auf den Zugang zu Ressourcen und auf die Verteilung derselben auf die Gesellschaftsmitglieder verwiesen. Dies kann man nach Leistung bemessen oder nach Bedarf, man kann auf die Anfangsausstattung mit Chancen abstellen oder auf die Verfügbarkeit von Einkommen.

Schnell sortieren sich die Gerechtigkeitskonzepte auf zwei gegensätzliche Perspektiven: Soll es um die Befähigung des Einzelnen zur dauerhaften Teilhabe in der freiheitlichen Ordnung gehen, dann sind Chancengerechtigkeit und Leistungsgerechtigkeit angemessen. Ist hingegen die bloße Verfügbarkeit finanzieller Mittel angesprochen, dann sind Verteilungsgerechtigkeit und Bedarfsgerechtigkeit passend.

Keine Gesellschaft kann sich nur auf eine der beiden Sichtweisen einlassen. Entscheidend aber ist, wo der Anker geworfen und dadurch der Gerechtigkeitsbegriff letztlich festgemacht wird.

Die Volksparteien haben sich begrifflich der Chancen- respektive Leistungsgerechtigkeit angenähert. Dies ist in der Marktwirtschaft konsequent, weil die Frage nach der fairen Teilhabe am ökonomischen Leben originärer Bestandteil dieser Wirtschaftsordnung ist. Die marktwirtschaftliche Ordnung kann dauerhaft nicht funktionieren, wenn viele, die mitmachen wollen und prinzipiell mitmachen können, ausgeschlossen sind. Daraus ergeben sich mit Blick auf die Beteiligungsgerechtigkeit für den Marktökonomen zwei Handlungsfelder: die Bildungspolitik und die Wettbewerbspolitik.

Während Bildungspolitik immer und sofort – oft freilich folgenlos – Zuspruch erfährt, wird Wettbewerbspolitik selten als Beitrag zur sozialen Gerechtigkeit verstanden. Aber was ist Wettbewerbspolitik anderes, als der ständig wachsame Angriff auf jede Form ökonomischer Machtballung und auf jede Ver- sowie Behinderung von Konkurrenz? Die Offenheit der Märkte sichert Chancen für jene, die ihren Leistungswillen zum Ausdruck bringen wollen und können. Wer das durch Wettbewerbspolitik nicht erreicht, der wird über Sozialpolitik keine Lösung finden.

Ebenso wenig lösen großzügige Transferzahlungen die Probleme, die das Bildungssystem hinterlässt. Und dennoch wird – fast mit neuem Elan – im Sozialbudget die Kennziffer der sozialen Gerechtigkeit gesehen. Hier ist vermeintlich leicht Gutes zu tun, weil jede Mehrausgabe sofort die Absicht belegt. Wer aber Bildungsreformen betreibt, der muss mit längeren Wirkungszeiten rechnen, der wird den Erfolg der eigenen Anstrengungen politisch kaum noch erleben.

Bremen ist eine zu recht stolze, weil traditionsreiche und traditionsbewusste Stadt. Doch die Situation in der schulischen Bildung ist unverändert schlecht, und das vor dem Hintergrund einer erschreckend hohen Kinderarmut. Die bisherige Landesregierung hat nicht glaubhaft machen können, dass sie soziale Gerechtigkeit als Chancengerechtigkeit wirklich zu stärken weiß. Angesichts der seit langem angelegten Strukturen in den Schulen und der Schulverwaltung waren radikale Schnitte angezeigt, vielfach hätte man schlicht einen Neuanfang wagen müssen.

Gefehlt hat auch der Mut, aus dem Befund an Kinderarmut ein Interventionsrecht des Staates abzuleiten, um den Kindern durch die Vermittlung von Kulturtechniken elementare Chancen zu sichern. Warum muss über Sprachstandserhebungen im Alter von vier Jahren so lange geredet werden? Warum wird bei einkommensschwachen Haushalten nicht durch Gutscheine für die kostenlose Kinderbetreuung darauf geachtet, dass diese Chancen auch genutzt werden? Mit dem bloßen Transfer von Geld werden wir hier nichts erreichen.

Wo in so eklatanter Weise soziale Gerechtigkeit als Chancengerechtigkeit verletzt wird, da muss es nicht wundern, dass Parolen Erfolg haben, die über nebulöse Versprechen mit Geldgeschenken scheinbar einen Ersatz anbieten. Wenn es nicht gelingt, diese Verdrehung der Zusammenhänge aufzulösen – durch mutige und fördernde Bildungspolitik und durch eine mutige und zumutende Sozialpolitik -, dann wird sich die Erosion der politischen Mitte noch weiter fortsetzen. Einfach nur auf den Fortgang des Aufschwungs zu hoffen ist keine überzeugende Antwort der Politik.

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