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Michael Hüther Gastbeitrag 23. März 2006

Europäische Globalisierungsängste

Die Proteste in Frankreich resultieren aus den gleichen Abstiegssorgen wie jene in Deutschland gegen Hartz IV.

Demonstrationen, Straßenschlachten und Generalstreik: Frankreich probt den Aufstand gegen die Globalisierung. Wer immer dachte, dies sei ein Alleinstellungsmerkmal unserer Gesellschaft, der wird eines Besseren belehrt. Es sind die gleichen Abstiegsängste, die – wie vor Jahresfrist in Deutschland gegen Hartz IV – nun in Frankreich die Menschen auf die Straße treiben.

Die Proteste haben ihre jeweilige Ursache in einer Veränderung bestehender Systeme, die auf die arbeitsmarktpolitischen Problemgruppen zielt. In Deutschland betrifft dies die Geringqualifizierten, deren Arbeitslosigkeit europaweit an der Spitze liegt und sich in den vergangenen Jahren weiter verschärfte. In Frankreich sind es die Jugendlichen, die eine, wiederum im europäischen Rahmen, Besorgnis erregende Arbeitslosigkeit aufweisen.

In Frankreich wie in Deutschland haben die Reformen zu gesellschaftlichen Reaktionen geführt, die den Status quo zum verteidigungswürdigen Zustand verklären. Dies ist erstaunlich, denn die Reformen sind bei Lichte besehen marginale Korrekturen. So soll in Frankreich der Kündigungsschutz für junge Menschen unter 26 Jahren für eine zweijährige Probezeit liberalisiert werden. In Deutschland hat Hartz IV die Ansprüche der früheren Arbeitslosenhilfe- und Sozialhilfeempfänger neu justiert. Dies zu Lasten der ersten Gruppe und zu Gunsten der zweiten Gruppe. Gerne übersehen wird die verbesserte Betreuung gerade jugendlicher Arbeitsloser, die das Fordern und Fördern erst glaubwürdig macht.

Man steht als Ökonom einigermaßen ratlos vor diesem Befund. Hat alles Argumentieren der vergangenen Jahrzehnte nichts genutzt? Ist die ökonomische Ratio verbesserter Anreizstrukturen der sozialen Grundsicherung oder eines liberalen Kündigungsschutzes nicht zu vermitteln?

Offenkundig dringen wir zu breiten gesellschaftlichen Schichten nicht mehr durch. Wirtschaftstheorie und Wirtschaftspolitik haben gleichermaßen Ansehen und Glaubwürdigkeit verloren. Die Zeit der großen überzeugenden Erzählungen – wie die eines Ludwig Erhard oder eines Karl Schiller – sind lange vorbei. Wir begreifen zunehmend, dass dies Ausnahmeerscheinungen waren.

An den Protesten sowohl in Deutschland als auch in Frankreich wird deutlich, dass auch die Idee der Freiheit an Strahlkraft eingebüßt hat. Zwar bedeuten die Reformen immer auch eine Begrenzung des Staates, und sie setzen auf mehr Freiheit für die Bürger. Dies gilt für eine Reform des Kündigungsschutzes, die auf größere Beschäftigungschancen abzielt, ebenso wie für die Sozialreform, die Leistungseinkommen stärker als bisher prämiert. Aber der Charme der Freiheit vermittelt sich offensichtlich nicht den vermeintlich Chancenlosen.

Zunehmend ergreifen die Ängste vor der Globalisierung aber auch jene gesellschaftlichen Gruppen, die unverändert an der marktwirtschaftlichen Ordnung teilhaben. Die Abstiegsrisiken erscheinen immer mehr Menschen als bedeutsam, obwohl nie zuvor ein größerer Anteil der erwerbsfähigen Bevölkerung in den Industrieländern einen Arbeitsplatz hatte und damit die Chance der ökonomischen Partizipation nie größer war.

Diese Widersprüche zwischen Realität und Rezeption sind durch verbreitete Fehleinschätzungen darüber begründet, was die Weltwirtschaft der offenen Gesellschaft heute an neuen, gänzlich anderen Bedingungen setzt. Dabei erscheinen jene Unternehmen als Standortvagabunden, die sich quasi täglich unter Renditegesichtspunkten neu orientieren. Dieses Bild hat sich nahezu verselbstständigt und besitzt für viele eine unbezweifelt hohe Glaubwürdigkeit.

Doch die Realität zeigt anderes: In Zeiten verstärkter internationaler Arbeitsteilung und dadurch forcierten Standortwettbewerbs bilden sich ausgleichend neue Kräfte der Standortverantwortung.

So haben sich parallel zur Internationalisierung der Wertschöpfung auch die internen und externen Bindungskräfte für Unternehmen dramatisch verändert. Die Dauer der Betriebszugehörigkeit schrumpft, Erwerbsbiografien werden brüchig. Die Unternehmen können daher nicht mehr auf die traditionelle Prägung der Unternehmenskultur setzen.

Die daraus folgende Handlungsorientierung für die Beschäftigten im täglichen Miteinander muss stärker als früher durch eine bewusste Unternehmensführung erreicht werden, die auf Partizipation ebenso setzt wie auf umfassende ethische Verantwortung. Die dadurch entstehende interne Reputation des Unternehmens ermöglicht erst die für den Markterfolg entscheidende externe Reputation bei den Kunden.

Im Umfeld dynamischen Wettbewerbs gleichen sich die Leistungspotenziale der Unternehmen an. Kunden können nur durch eine glaubwürdige Differenzierung gewonnen und gebunden werden. Die dafür bedeutsame Formulierung ethischer Standards beobachten wir insbesondere bei den international tätigen Unternehmen. Und selbst die viel gescholtenen Finanzinvestoren zeichnen sich nicht selten durch ein gesellschaftliches Engagement aus. Diese Hinweise lassen erkennen, dass Wettbewerbsprozesse nie nur eindimensionale Folgen haben, sondern immer auch Muster der Kompensation hervorbringen.

Den Verängstigten ist zuzurufen: Bei allen Fehlentwicklungen, die es auch bei Unternehmen gibt, unterstützt diejenigen, die für eine bessere Wirtschaftspolitik werben! Die Agenda 2010 hat zwar spät, aber immerhin die sozialpolitischen Träume der 80er-Jahre korrigiert. Die partielle Reform des Kündigungsschutzes in Frankreich will endlich den wirklich Chancenlosen eine Perspektive verschaffen. Auch wenn es schmerzt und vielen nicht einleuchtet: Dies ist der richtige, aber gerade erst begonnene Weg.

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